Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville - Ein Kriminalroman aus der Normandie

von: Maria Dries

Aufbau Verlag, 2017

ISBN: 9783841214249 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville - Ein Kriminalroman aus der Normandie


 

Barneville-Carteret, Dienstag, 06. September 2016
Café de France


Nathalie Baye wachte mit hämmernden Kopfschmerzen auf. Sie stöhnte. Ein Blick auf den Wecker sagte ihr, dass es elf Uhr war. Die Party von gestern, am Plage de la Vieille Église, am Strand der Alten Kirche fiel ihr wieder ein. Wann war sie eigentlich nach Hause gegangen? Nach wie vielen Gläsern Bier und Tequila? Wie war sie heimgekommen? Hatte sie einen Typen abgeschleppt? Dunkel erinnerte sie sich an einen deutschen Urlauber mit dunklen Haaren und einer niedlichen Lücke zwischen den Schneidezähnen, der so charmant mit ihr geflirtet hatte. Erschrocken schaute sie neben sich. Niemand lag in ihrem Bett. Mon Dieu! Sie hatte einen Filmriss. Aber offensichtlich war sie unversehrt und ohne Begleitung nach Hause gekommen.

Vorsichtig stieg sie aus dem Bett und rieb sich die Schläfen. Jetzt brauchte sie dringend zwei Aspirin und einen starken Kaffee. Bekleidet mit einem rosafarbenen Hello-Kitty-Slip und einem weißen Top tappte sie barfuß in die Küche. Nathalie war klein und ein wenig pummelig. Die roten Locken standen drahtig vom Kopf ab. Sie setzte Kaffee auf und rührte das Aspirinpulver in ein Glas mit kaltem Wasser, das sie in einem Zug leer trank.

Mit der dampfenden Kaffeetasse in der Hand öffnete sie die unverschlossene Haustür und trat auf den kleinen gepflasterten Vorplatz. Er war von einer verwitterten Steinmauer begrenzt. Zur Wiese hin bildeten Büsche eine natürliche Barriere. Nach Westen öffnete sich der Blick auf den Ozean, weshalb Anouk und sie die Terrasse zu ihrem Lieblingsplatz erkoren und Gartenmöbel aufgestellt hatten. Einen runden Tisch und bequeme Stühle mit bunten Polstern. Nathalie ließ sich auf einen Stuhl sinken, trank einen Schluck Kaffee und blinzelte in die Sonne. In weiter Ferne glitzerte das Meer. Langsam konnte sie wieder klarer denken. Wo war eigentlich Anouk? Wo war ihr Hund? Nathalie nahm an, dass sie alleine war, denn im Haus war es ganz still gewesen. Normalerweise hätte der Hund, ein weiß-braun gefleckter Jack Russell Terrier mit dem Namen Filou, sofort auf sich aufmerksam gemacht und sich die Schlappohren streicheln lassen. War ihre Freundin mit auf der Strandparty gewesen? Angestrengt überlegte sie. Nein, sie war alleine hingegangen. Am Hafen entlang und dann auf dem Zöllnerpfad um das Cap. Auch im Laufe des feuchtfröhlichen Abends war Anouk nicht aufgetaucht, da war sie sich ziemlich sicher. Entschlossen erhob sie sich. Sie musste sich Gewissheit verschaffen.

Nathalie ging ins Haus und lief über die alte knarrende Holzstiege in den ersten Stock, wo das Schlafzimmer von Anouk lag. Sie klopfte, rief den Namen ihrer Mitbewohnerin und öffnete die Tür. Aufmerksam sah sie sich um. Der Raum war leer, das Bett ihrer Freundin unberührt. Auch der Hund lag nicht in seinem Körbchen. Wo steckten sie bloß? Gähnend lief sie wieder nach draußen zu ihrem Kaffee.

Anouk und sie studierten Psychologie an der Universität von Cherbourg. Nathalie stammte aus einem kleinen Dorf in der Auvergne. Ihr Vater züchtete Schafe und Ziegen und produzierte Käse. Anouk kam aus Grandcamp-Maisy, einem ehemaligen Fischerdorf mit einem sehr schönen kleinen Hafen, das die Côte de Nacre nach Westen begrenzte. Es hatte sich längst zu einem beliebten Badeort entwickelt.

Die beiden Frauen hatten in Cherbourg in einem Studentenwohnheim gelebt und waren mit der Situation ziemlich unglücklich gewesen. Die Einzimmerappartements waren winzig. Das sterile Gebäude lag an einer vielbefahrenen Straße und verfügte weder über einen Garten noch über eine Terrasse. Beide waren es nicht gewohnt, in einer Großstadt zu leben, und vermissten die Natur, frische Luft und Ruhe. Anouk musste mit Filou einen Park aufsuchen, wenn sie ihn frei laufen lassen wollte.

Nachdem die Studentinnen sich angefreundet hatten, unternahmen sie an den Wochenenden Ausflüge ins Hinterland und ans Meer. Bei einem Spaziergang hatten sie das kleine Haus entdeckt. Es lag inmitten von Feldern und Wiesen etwas außerhalb von Barneville. Im Garten stand ein Schild mit der Aufschrift À louer, zu vermieten. Außerdem war eine Handynummer angegeben. Auf der Stelle verliebten sie sich in das alte Granitsteinhaus mit den himmelblauen Fensterläden und dem verwilderten Garten. Sie riefen den Eigentümer an, der kurze Zeit später auf seinem Traktor angetuckert kam und den Studentinnen das Haus zeigte. Die beiden Schlafzimmer waren zwar klein, dafür gab es einen Salon mit einem Kaminofen, sowie eine Küche mit einem Essplatz. Das Badezimmer verfügte sogar über eine altmodische Badewanne mit Klauenfüßen. Im Garten standen Obstbäume, die reife Früchte trugen.

Das Gebäude stand schon einige Zeit leer, doch es hatte sich noch kein Mieter gefunden. Den bisherigen Interessenten war die Ausstattung zu einfach und die Lage zu einsam gewesen. Der Landwirt fand die beiden Frauen bezaubernd, und sie einigten sich auf eine günstige Miete. Seit fast einem Jahr lebten sie nun schon hier und hatten es nie bereut. Nach Cherbourg waren es nur etwa dreißig Kilometer. Anouk besaß einen kleinen Renault, mit dem sie zur Uni fuhren. Manchmal nahmen sie auch den Bus.

Nathalie beschloss heiß zu duschen. Vielleicht würde ihr benebelter Kopf dann klarer werden.

Schließlich lief sie, gehüllt in ein Frotteetuch, in ihr Schlafzimmer. Ihr Handy fand sie unter dem Bett. Sie tippte auf den Namen ihrer Freundin, und sofort sprang die Mailbox an. Nathalie hinterließ eine Nachricht und bat um einen Rückruf. Sorgen machte sie sich keine. Anouk fuhr manchmal mit ihrem Hund ins Blaue hinein, gerade jetzt in den Semesterferien. Sie war gerne für sich und hatte immer ihre Fotoausrüstung dabei. Einige Schwarz-Weiß-Fotos hingen, schlicht gerahmt, im Wohnzimmer. Sie zeigten den aufgewühlten Ozean, Wolkengebirge, Dünen mit windgepeitschtem Strandhafer und verlassene Strände. Wenn sie lange unterwegs war, übernachtete sie in kleinen günstigen Pensionen. War das Geld knapp, schlief sie einfach im Auto.

Nathalie ging davon aus, dass ihre Freundin bald zurückkommen würde. Ihr Handy klingelte. Erleichtert sah sie auf das Display, aber es war nicht Anouk. Am Apparat war der süße Tourist aus Deutschland, den sie bei der gestrigen Strandparty kennengelernt hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihm ihre Handynummer gegeben hatte. Seinen Namen wusste sie auch nicht mehr. Er stellte sich als Anton vor und lud sie zu einer Spritztour ein. Er wollte über die Küstenstraße nach Barfleur fahren. Jemand hatte ihm erzählt, dass es ein ganz bezaubernder Fischerort war. Dort wollte er ein, zwei Tage auf einem Campingplatz zelten und die Festung von Vauban in Saint-Vaast-la-Hougue und die kleine Vogelschutzinsel Tatihou besichtigen. Ob sie Lust hätte? Natürlich hatte sie Lust! Der Typ war wirklich charmant und kein bisschen aufdringlich, und außerdem – wenn Anouk einen Ausflug machte, konnte sie das auch. Sie wählte noch einmal die Nummer ihrer Freundin und hinterließ eine Nachricht, dass sie für einige Tage verreisen würde.

Eilig zog sie sich an und packte eine kleine Reisetasche. In zehn Minuten würde er sie abholen. Sie beschloss, ihn Toni zu nennen. Das klang hübsch.

Geneviève Sorel suchte nach ihrer Tochter. Sie suchte immer nach ihrer Tochter, seit sie vor fünf Jahren verschwunden war. Tag und Nacht. Überall. Jetzt irrte sie durch die großflächige weite Dünenlandschaft zwischen Surville und Portbail, die sich südlich von Barneville erstreckte. Sie folgte einem Trampelpfad, der sich durch Flechten und kleine Büsche von blau blühenden Stranddisteln schlängelte. Aufmerksam betrachtete sie ihre Umgebung, blickte in jede Mulde und hinter jeden Fels. Die Sonne brannte vom Himmel und erwärmte den Sand. Sie wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Eine Möwenschar zog kreischend vorbei.

Vor einigen Jahren noch war Madame Sorel eine schöne, charmante Frau mit viel Humor und Unternehmungsgeist gewesen. Inzwischen war sie abgemagert, die einst makellose Haut faltig und grau. Die glänzenden braunen Haare waren schlohweiß und strohig geworden. Wirr und spärlich standen sie von ihrem Kopf ab. Ihre dunklen glanzlosen Augen huschten hin und her. Sie hatte bisher noch keine Spur von ihrer Tochter gefunden, aber sie würde nicht aufgeben. Irgendwo musste sie ja sein.

Als sie müde wurde, beschloss sie, die Suche vorläufig zu beenden und einen Strauß Wildblumen für die Gedenkstätte ihrer Tochter zu pflücken. Nach einem einstündigen Fußmarsch erreichte sie die Stelle. Sie hatte sie ausgesucht, weil ihre Tochter dort zum letzten Mal gesehen worden war. Die Stätte befand sich unterhalb eines alten Wehrturmes aus groben Granitsteinen. Schießscharten bildeten schwarze Höhlungen. Gekrönt wurde er von Rechteckzinnen, die die runde Wehrplattform umgrenzten. An einer Stelle, an der die Steinmauer herausgebrochen war, klaffte ein großes Loch. Das marode Bauwerk erhob sich direkt hinter den Klippen, die fast senkrecht in das brodelnde Meer stürzten. Unterhalb der Abbruchkante gab es einen ebenen Platz, den man über eine Treppe erreichen konnte. Er wurde von einem natürlichen steinernen Dach überspannt. Das Felsgestein formte dort eine kleine Höhle, geschützt vor dem Ozean. Darin hatte sie einen Schrein für ihre Tochter aufgebaut. Den Mittelpunkt bildete eine Fotografie in einem ovalen goldenen Rahmen. Sie war an ihrem Geburtstag aufgenommen worden. Weitere Schnappschüsse zeigten sie als pausbäckiges Kleinkind, als Erstklässlerin mit einer Schultüte, sowie als Jugendliche auf einer Vespa.

Madame Sorel arrangierte die Blumen in...