Die Attentäterin - Agententhriller

Die Attentäterin - Agententhriller

von: Daniel Silva

HarperCollins, 2017

ISBN: 9783959676564 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Die Attentäterin - Agententhriller


 

1

LE MARAIS, PARIS

Es war Toulouse, das sich als Hannah Weinbergs Verderben erweisen sollte. An jenem Abend telefonierte sie mit Alain Lambert, ihrem Verbindungsmann im Innenministerium, und erklärte ihm, diesmal müsse unbedingt etwas getan werden. Alain versprach eine rasche Reaktion. Sie würde entschlossen ausfallen, versicherte er Hannah, wobei „entschlossen“ die Standardformel eines Funktionärs war, der in Wirklichkeit nichts zu tun beabsichtigte. Am Morgen danach besuchte der Minister den Ort des Überfalls und rief mit vagen Worten zu „Dialog und Aussöhnung“ auf. Den Eltern der drei Opfer sprach er lediglich sein Bedauern aus. „Wir wollen besser werden“, sagte er vor seiner Rückkehr nach Paris. „Das müssen wir.“

Sie waren zwölf Jahre alt, die Opfer, zwei Jungen und ein Mädchen, alle drei Juden, obwohl die französischen Medien es in den ersten Berichten versäumten, ihre Konfession zu erwähnen. Sie machten sich auch nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, dass die sechs Angreifer Muslime waren, sondern bezeichneten sie nur als Jugendliche aus einer Banlieue im Osten der Stadt. Die Schilderung des Überfalls war vage bis zur Ungenauigkeit. Wie der französische Rundfunk meldete, sei es vor einer Patisserie zu einer Auseinandersetzung gekommen. Dabei seien drei Personen verletzt worden, eine davon schwer. Die Polizei habe Ermittlungen aufgenommen. Festnahmen habe es keine gegeben.

Tatsächlich war dies keine Auseinandersetzung, sondern ein sorgfältig geplanter Überfall gewesen. Und die Angreifer waren keine Jugendlichen, sondern junge Männer Anfang zwanzig, die auf der Suche nach Juden, denen sie etwas antun konnten, in die Innenstadt von Toulouse gekommen waren. Dass ihre Opfer Kinder waren, schien sie nicht zu stören. Die beiden Jungen wurden mit Füßen getreten, bespuckt und anschließend blutig geschlagen. Das Mädchen drückten sie aufs Pflaster und zerschnitten ihm das Gesicht mit einem Messer. Bevor die Angreifer flüchteten, wandten sie sich an eine Gruppe wie gelähmt dastehender Augenzeugen und riefen: „Chaibar, Chaibar, ja-Jahud!“ Obwohl die Zuschauer das nicht wussten, bezog der arabische Ruf sich auf die muslimische Eroberung einer jüdischen Oase nördlich der heiligen Stadt Medina im siebten Jahrhundert. Die Botschaft war eindeutig. Die Heerscharen Mohammeds, riefen die sechs jungen Männer, zögen in den Krieg gegen die französischen Juden.

Bedauerlicherweise ereignete der Überfall in Toulouse sich nicht ohne Präzedenzfälle oder reichliche Vorwarnung. Frankreich erlebte gegenwärtig die schlimmsten Ausschreitungen gegen Juden seit dem Holocaust. Auf Synagogen waren Brandanschläge verübt, Grabsteine waren umgeworfen, Läden geplündert, Häuser verwüstet und mit Hassparolen besprüht worden. Allein im Vorjahr hatte es insgesamt über viertausend dokumentierte Anschläge gegeben, die Hannah und ihr Team im Isaac-Weinberg-Zentrum für das Studium des Antisemitismus in Frankreich sorgfältig aufgezeichnet und analysiert hatten.

Das nach Hannahs Großvater benannte Zentrum war vor zehn Jahren unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen eröffnet worden. Gegenwärtig war es die angesehenste französische Einrichtung dieser Art, und Hannah Weinberg galt als bedeutendste Chronistin der neuen antisemitischen Welle in Frankreich. Für ihre Unterstützer war sie eine „militante Mahnerin“, eine Frau, die vor nichts haltmachte, wenn es darum ging, Frankreich anzutreiben, seine belagerte jüdische Minderheit zu schützen. Ihre Kritiker drückten sich weit weniger wohlwollend aus. Deshalb hatte Hannah längst aufgehört, alles zu lesen, was in der Presse oder den Kloaken des Internets über sie geschrieben wurde.

Das Weinberg-Zentrum stand in der Rue des Rosiers, der prominentesten Straße im bekanntesten jüdischen Viertel von Paris. Hannahs Wohnung lag gleich um die Ecke in der Rue Pavée. Auf dem Namensschild neben ihrem Klingelknopf stand MME. BERTRAND, eine der wenigen Sicherheitsvorkehrungen, die sie zu ihrem Schutz ergriff. Von den Besitztümern dreier Generationen ihrer Familie umgeben, zu denen eine bescheidene Gemäldesammlung und mehrere Hundert antiker Brillen – ihre geheime Leidenschaft – gehörten, lebte sie dort allein. Mit fünfundfünfzig Jahren war sie ledig und kinderlos. Wenn die Arbeit es zuließ, gestattete sie sich manchmal einen Liebhaber. Alain Lambert, ihr Verbindungsmann im Innenministerium, war einmal eine angenehme Ablenkung in einer schlimmen Zeit gewesen, in der sich antisemitische Vorfälle gehäuft hatten. Nach dem Besuch seines Ministers in Toulouse rief er Hannah spätabends zu Hause an.

„So viel zu seiner Entschlossenheit“, sagte sie sarkastisch. „Er sollte sich schämen!“

„Wir haben unser Bestes getan.“

„Euer Bestes ist nicht gut genug.“

„Es ist besser, in solchen Zeiten kein Öl ins Feuer zu gießen.“

„Das haben die Leute im Sommer neunzehnhundertzweiundvierzig auch gesagt.“

„Wir wollen nicht allzu emotional werden.“

„Du lässt mir keine andere Wahl, als eine Stellungnahme zu veröffentlichen, Alain.“

„Wähle deine Worte sorgfältig. Wir sind die Einzigen, die zwischen ihnen und euch stehen.“

Hannah legte auf. Dann zog sie die oberste Schublade ihres Schreibtischs auf und nahm einen einzelnen Schlüssel heraus. Damit ließ sich eine Tür am Ende des Flurs aufsperren. Dahinter lag ein Kinderzimmer, Hannahs Zimmer, wie in der Zeit erstarrt. Ein Himmelbett mit einem Himmel aus weißer Spitze. Regale voller Plüschtiere und Spielsachen. Ein verblasstes Foto eines US-Filmstars und Mädchenschwarms. Und über der provenzalischen Kommode hing – im Halbdunkel fast unsichtbar – ein Gemälde von Vincent van Gogh. Marguerite Gachet an ihrem Toilettentisch … Hannah ließ ihre Fingerspitze über die Pinselstriche gleiten und dachte an den Mann, der das Bild zum ersten und einzigen Mal restauriert hatte. Wie hätte er auf ihre Herausforderungen reagiert? Nein, sagte sie sich lächelnd. Das wäre keine Option.

Sie streckte sich auf ihrem Kinderbett aus und verfiel zu ihrer großen Überraschung in traumlosen Schlaf. Und als sie aufwachte, war ihr Plan fertig.

Den größten Teil der folgenden Woche verbrachten Hannah und ihr Team damit, unter strengster operativer Geheimhaltung zu arbeiten. Potenzielle Teilnehmer wurden dezent angesprochen, Zögernde unter Druck gesetzt, Geldgeber angezapft. Zwei von Hannahs verlässlichsten Großspendern verweigerten sich, weil sie wie der Innenminister glaubten, man solle jetzt lieber kein Öl ins Feuer gießen. Um ihren Ausfall zu kompensieren, musste Hannah aus ihrem beträchtlichen Privatvermögen Geld zuschießen. Auch das war wieder Wasser auf die Mühlen ihrer Gegner.

Zuletzt stellte sich die weniger bedeutende Frage, wie Hannahs Unternehmen heißen sollte. Rachel Lévy, die PR-Chefin des Zentrums, plädierte für Farblosigkeit mit einem Schuss Verschleierung, aber Hannah überstimmte sie. Wenn Synagogen brannten, sagte sie, sei Vorsicht ein Luxus, den sie sich nicht leisten könnten. Hannah wollte Alarm schlagen, mit einem Hornsignal zum Kampf aufrufen. Sie kritzelte ein paar Wörter auf einen Notizzettel, den sie auf Rachels übervollen Schreibtisch legte.

„Das müsste medienwirksam genug sein.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte noch kein wichtiger Gast sein Kommen angekündigt – bis auf einen nervenden amerikanischen Blogger und Kommentator im Kabelfernsehen, der eine Einladung zu seiner eigenen Beerdigung angenommen hätte. Aber dann erklärte Arthur Goldman, der berühmte Antisemitismusforscher aus Cambridge, sich bereit, nach Paris zu kommen – natürlich unter der Voraussetzung, dass Hannah ihn für zwei Nächte in seiner Lieblingssuite im Crillon unterbrachte. Mit Goldmans Zusage angelte Hannah sich Maxwell Strauss aus Yale, der keine Gelegenheit ausließ, mit seinem Konkurrenten auf demselben Podium zu sitzen. Die restlichen Teilnehmer fanden sich rasch. Der Direktor des amerikanischen Holocaust-Memorial-Museums sagte ebenso zu wie zwei wichtige Überlebende und ein Experte für den französischen Holocaust aus der Gedenkstätte Jad Waschem. Dazu kamen eine Autorin – mehr wegen ihrer ungeheuren Beliebtheit als ihres Geschichtswissens – und ein weit rechts stehender Politiker, der selten ein freundliches Wort für irgendjemanden hatte. Mehrere muslimische geistliche und politische Würdenträger wurden eingeladen. Alle sagten jedoch ab. Das tat auch der Innenminister. Darüber wurde Hannah von Alain Lambert persönlich informiert.

„Hast du wirklich geglaubt, er würde an einer Konferenz mit einem so provokanten Namen teilnehmen?“

„Gott bewahre, dass dein Minister jemals etwas Provokantes täte, Alain.“

„Was ist mit Sicherheitsmaßnahmen?“

„Wir haben immer auf uns selbst aufgepasst.“

„Keine Israelis, Hannah. Das würde die Sache in ein schiefes Licht rücken.“

Am folgenden Tag gab Rachel Lévy die Pressemitteilung heraus. Die Medien wurden zur Berichterstattung über die Konferenz eingeladen; eine begrenzte Anzahl von Plätzen würde der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Einige Stunden später wurde auf einer belebten Straße im 12. Arrondissement ein religiöser Jude von einem Mann mit einem Beil angefallen und schwer verwundet. Der flüchtende Attentäter schwenkte die blutige Waffe und rief: „Chaibar, Chaibar, ja-Jahud!“ Die Polizei ermittelte.

Aus Zeitdruck und Sicherheitsgründen lagen nur fünf hektische Tage zwischen der Pressemitteilung und der Eröffnung der Konferenz. Deshalb wartete Hannah bis zur...