Die Oleanderfrauen - Roman

von: Teresa Simon

Heyne, 2018

ISBN: 9783641191986 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die Oleanderfrauen - Roman


 

1


Hamburg, Mai 2016


Wie konnte jemand nur so viel Pech haben!

Tränenblind starrte Jule Weisbach auf das zerknitterte Anschreiben der Nobel GmbH & Co KG in ihren Händen.

»… teilen wir Ihnen mit, dass sich der Mietzins für Ihre Gewerberäume ab dem 1. 8. 2016 um 650,– Euro monatlich erhöht …«

Die akkuraten schwarzen Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Wenn kein Wunder geschah, bedeutete dieser Brief das Aus für ihr kleines Café am Alma-Wartenberg-Platz, dem sie in Anlehnung an die berühmte große Schwester drunten in Ovelgönne augenzwinkernd den Namen Strandperlchen gegeben hatte. Es hatte fast zwei Jahre gedauert, bis sie in Ottensen heimisch geworden war. Mittlerweile aber liebte sie dieses schillernde Viertel und konnte sich kaum vorstellen, an einem anderen Ort zu leben und zu arbeiten – und das, obwohl sie im Erzgebirge aufgewachsen und später zum Studium nach Dresden gegangen war, wo inzwischen auch ihre Mutter lebte. Aber jene unbestimmte Sehnsucht nach weitem Himmel, großen Schiffen und der salzigen Luft des Meeres hatte es immer schon in ihr gegeben, und wenn Jule jetzt an den Landungsbrücken stand oder auf dem sonntäglichen Fischmarkt das Geschrei der Händler hörte, fühlte sie sich ganz zu Hause.

Ein Glücksfall, dass ihr Vormieter sich entschlossen hatte, zu seinem Schatz nach Kiel zu ziehen. Damals war hier noch alles grau und trist gewesen, eine heruntergekommene Punkkneipe, die den Anschluss an die Gegenwart verschlafen hatte. Jetzt aber leuchteten die Wände in sonnigem Türkis, und die hell gebeizten Tische und Stühle wirkten wie eine gemütliche Sommerfrische, in der man sich gerne aufhielt. Ein Ort zum Reden, zum Ausruhen, zum Genießen, genauso hatte Jule es sich gewünscht. Die Unterschiedlichkeit ihrer Gäste gefiel ihr dabei besonders. Sie mochte die Alten ebenso gern wie die ambitionierten Mütter mit ihren verzogenen Kleinkindern, die jungen Frauen, die meist im Rudel auftraten, die älteren Freundinnen, die sich so viel zu erzählen hatten, oder die verliebten Pärchen, die sich am liebsten in einen der beiden Strandkörbe kuschelten, die Jule bei halbwegs gutem Wetter vor der Tür aufstellte. Dass die Straßenreinigung regelmäßig den feinen hellen Sand wieder wegkehrte, den ein Freund ihr ebenso unermüdlich vom Elbstrand mitbrachte, war eine andere Sache.

Das zählte Jule nicht einmal zu den Pleiten, die sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zogen. Eigentlich war sie inzwischen daran gewöhnt und hatte so einiges an Erfahrung darin gesammelt, wieder aufzustehen und weiterzumachen. Doch seit einigen Monaten häuften sich die Pleiten dermaßen, dass sie manchmal Beklemmungen bekam. Angefangen hatte es im letzten Herbst, als sie die letzten drei Treppenstufen im Hausflur übersehen und sich beim Sturz eine üble Bänderzerrung zugezogen hatte, die erst im Dezember wieder ausgeheilt war. Ohne die tatkräftige Unterstützung von Aphrodite, die zwei Türen weiter ihren Laden catch the bride für schräge Hochzeitsmoden betrieb und spontan im Café ausgeholfen hatte, hätte Jule damals schon zumachen müssen.

Zur Jahreswende hatte dann die alte Dame in der Wohnung über ihr die eingeweichten Strümpfe im Waschbecken vergessen und, leider ebenso, den Hahn wieder zuzudrehen. Aus unzähligen Deckenrissen war bis in die frühen Morgenstunden Wasser in Jules Wohnung erst getröpfelt und schließlich gelaufen. Wände und Böden hatten sich in eine übelriechende Sumpflandschaft verwandelt, die von Spezialmaschinen wochenlang hatte trockengelegt werden müssen.

Natürlich gehörte auch der Verkehrsunfall im Februar dazu, bei dem ihr alter Ford Kombi geschrottet worden war – schuldlos hin, schuldlos her. Von den paar Euro, die sie dafür von der gegnerischen Versicherung noch bekommen hatte, konnte sie sich keinen halbwegs brauchbaren Wagen leisten. Aber um im Großmarkt für das Café einzukaufen, benötigte sie nun einmal ein Auto, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als eben doch wieder Jonas um Hilfe zu bitten.

Jonas.

Er war die Dauerbaustelle in ihrem Herzen, eine Wunde, die nicht heilen wollte. Vielleicht lag es daran, dass sie noch immer zu oft miteinander in Kontakt waren. Dabei tat es weh, mit anzusehen, wie der Babybauch seiner Freundin Claudi von Monat zu Monat wuchs und er nun scheinbar aus freien Stücken Verbindlichkeiten einging, von denen Jule immer nur geträumt hatte. Auf einmal war es kein Problem mehr für ihn, mit einer Frau zusammenzuleben, während Jules Nähe ihn bereits nach einem langen gemeinsamen Wochenende »eingeengt« hatte. Jonas arbeitete wieder als Lehrer, hatte seinen Bart abrasiert und wirkte in seinen neuen Klamotten so aufgeräumt, dass sie ihn kaum wiedererkannte. Sah ganz so aus, als sei er endlich an jenem Ort angekommen, an den sie es vermutlich niemals schaffen würde – schon gar nicht allein.

Ein Rütteln an der Tür schreckte sie aus ihrem Kummer auf.

Es war der weißhaarige Monsieur Pierre aus Toulouse, der jeden Morgen bei ihr zwei speziell zubereitete Gläser Latte macchiato trank, während er seine Le Monde von der ersten bis zur letzten Zeile studierte. Neben ihm saß immer statuengleich Mims, die schwarze Katze mit den weißen Pfoten, die das Strandperlchen im letzten Sommer zu ihrem neuen Zuhause erkoren hatte.

Jule wischte die Tränen weg. Es gelang ihr sogar, ein halbwegs beherrschtes Gesicht aufzusetzen, als sie die beiden hereinließ. So glaubte sie zumindest. Aber weder der alte Mann noch die Katze ließen sich davon täuschen. Mims strich ihr unermüdlich um die Beine, als wollte sie sie trösten, und Monsieur Pierre sah sie so mitfühlend an, dass ihre Augen schon wieder feucht wurden.

»Sorgen?«, fragte er mit seinem charmanten französischen Akzent, der alles so viel leichter klingen ließ. »Die vergehen wieder, ma chère! Wenn Sie erst einmal so alt sind wie ich …«

Er nahm wie gewohnt am Fenstertisch Platz, wo er alles beobachten konnte, was sich draußen tat.

»Diese leider nicht«, murmelte Jule, während sie zur Theke ging, um dort das Herzstück ihres kleinen Ladens in Gang zu setzen, die Faema, die sie bei einem Italientrip in einer Turiner Bar aufgetrieben hatte. Obwohl die alte chromglänzende Espressomaschine schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, funktionierte sie noch immer einwandfrei und genügte sogar den Anforderungen einer ambitionierten Barista, zu der Jule sich mehr und mehr entwickelte. Irgendwie schmeckt der Kaffee im Strandperlchen anders, frischer, aromatischer, aufregender, egal, ob als Espresso oder aufgebrüht zubereitet, wie es wieder immer mehr in Mode kam. Das hatte sich rasch herumgesprochen in diesem Szeneviertel, in dem alle paar Monate ein neues Café eröffnete und manchmal ebenso schnell wieder schloss. Hatte Jule anfangs gängige Kaffee-Sorten verwendet, so war sie nach ein paar Monaten auf eine junge Spanierin gestoßen, die ihr die Augen geöffnet hatte und schon bald zu ihrer persönlichen Kaffeeberaterin avanciert war.

Maite da Silva schien einfach alles zu wissen über jene begehrten roten Kirschen, die entlang des Äquators wuchsen und geröstet so fantastisch schmecken konnten – oder einfach nur langweilig, ja, sogar widerwärtig, wenn man ihre Zubereitung vergeigte. Nach und nach erweiterte Jule ihre Kenntnisse, besuchte Maites ebenso informative wie unterhaltsame Fortbildungen, ließ sich in Sensorik-Kursen schulen, die ihren Geschmacksradius erweiterten, und bot ihren Gästen inzwischen ausgefallene Sorten von selbstständigen Kaffeebauern oder kleineren Kooperativen an, die selbstredend nachhaltig angebaut waren und den Gesetzen des Fair trade entsprachen.

Was natürlich seinen Preis hatte.

Während Jule behutsam die Milch für den alten Franzosen aufschäumte, stand ihr wieder die drohende Mieterhöhung vor Augen. In absehbarer Zeit konnte sie nicht so viel mehr bezahlen, ohne empfindlich teurer zu werden oder die Qualität zu senken, was beides für sie nicht in Frage kam. Auch ihr zweites Standbein, dem sie den klangvollen Titel Ich schreib dir dein Leben gegeben hatte, lief gerade erst an. Begonnen hatte es mit einer alten Dame, die vor einem Stoß vergilbter Briefe schier verzweifelt war, unfähig, aus eigener Kraft ihre verwickelte Familiengeschichte zu rekonstruieren. Mehr aus einer Laune heraus hatte Jule ihr angeboten, dies für sie zu übernehmen – und schon bald Feuer gefangen. Nach wenigen Wochen überreichte sie Frau Hinrichs ein gebundenes Konvolut, das diese überglücklich gemacht hatte.

Weitere Aufträge folgten, denn die begeisterte Kundin hatte umgehend Bekannte, Freunde und Nachbarn informiert: Herr Holms, der vor fast vierundachtzig Jahren in Altona als uneheliches Kind zur Welt gekommen war und endlich mehr über seinen Vater erfahren wollte, den die SA am Tag seiner Geburt zu Tode geprügelt hatte. Frau Willemsen, die ohne Unterstützung garantiert an den Nachforschungen über ihre lebenslustige Großmutter Agathe gescheitert wäre, die, wie sich herausstellte, nicht nur drei Ehemänner, sondern auch eine stattliche Anzahl an Liebhabern aufzuweisen hatte. Herr Brockmann mit dem silbernen Backenbart, der bis zum Rentenalter zur See gefahren war und bis dato so gut wie nichts über seine Familie gewusst hatte, weil er bei einer Großtante aufgewachsen war – Geschichten über Geschichten …

Reich wurde man damit zwar auch nicht, aber es machte Jule Spaß, Geschichte so hautnah zu recherchieren und niederzuschreiben. Das war etwas ganz anderes als jene öden Klausuren oder staubtrockenen...