Die Intelligenz der Tiere - Wie Tiere fühlen und denken

von: Carl Safina

Verlag C.H.Beck, 2017

ISBN: 9783406707919 , 527 Seiten

Format: PDF, ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 12,99 EUR

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Die Intelligenz der Tiere - Wie Tiere fühlen und denken


 

Ich weiß nicht, wie ich Wiedersehen sagen soll


Wir beobachten die Elefanten auf ihrem Weg in den Sumpf. Krachend bahnen sie sich ihren Weg durch das hohe Gras und waten in die erfrischende Nässe.

Wie entscheiden die Familien über das Ziel und den Zeitpunkt ihrer nächsten Wanderung? Vicki hat dies sehr genau beobachtet. «Wenn ein Familienmitglied gerne an einen bestimmten Ort gehen möchte, setzt es sich an den Rand der Gruppe und schaut in die gewünschte Richtung.» Dies wird als die «Los geht’s»-Körperhaltung bezeichnet. Alle paar Minuten kollert der Elefant ein «Los geht’s». Es ist ein Vorschlag: «Ich würde gerne diesen Weg einschlagen; lasst uns zusammen gehen.» – «Entweder die anderen kommen mit», erklärt Vicki, «oder sie bewegen sich nicht von der Stelle».[108]

Und wenn die anderen nicht mitkommen wollen?

«Dann kommt der Elefant mit dem Wunschziel nochmals auf die Familie zu und initiiert eine große Begrüßungsrunde, um sich Unterstützung zu holen. In etwa so: ‹Hey! Wir sind doch gute Freunde oder? Ich würde gern dahin gehen›». Daher kann eine Begrüßung auch strategische Gründe haben.

Manchmal erfolgt die Zustimmung sehr schnell. Die Leitkuh gibt ein langgezogenes, leises Kollern von sich, stellt dann ihre Ohren auf und schlägt sie gegen Hals und Schultern, als würde sie in die Hände klatschen. Die Familie setzt sich unmittelbar in Bewegung, als hätte sie nur auf ihr Zeichen gewartet. Manchmal aber wird erst stundenlang diskutiert.

«Sie wissen, was sie erwartet», erläutert Vicki. «Wenn eine große, dominante Familie sich dort aufhält, wo man selbst gerne hingegangen wäre, vermeidet man Ärger und sucht sich ein anderes Ziel.» Manchmal ist es offensichtlich, in manchen Fällen kann ich mir ihr Handeln nicht erklären.

Vicki hält inne und sagt: «Hallo Amelia». Dann, mir zugewandt: «Siehst du die Elefantenkuh, die mit den Ohren wedelt? Das ist Jolene, die Matriarchin der JAs. Und –» Vicki beobachtet durch ihr Fernglas eine Kuh, die sich weiter entfernt im hohen Gras des Sumpfs befindet. «Ach ja, das ist Yvonne.»

Die AAs, die YAs und die JAs sind gemeinsam hier. Die AAs sind mit den JAs befreundet und die YAs mit den JAs. Sie begrüßen sich alle. Vicki übersetzt für mich: «Sie sagen nicht nur ‹Oh, hallo!›, sondern eher, ‹Das bin ich, und das bist du – wir sind befreundet und zusammen hier.›»

Bei der Begrüßung machen alle Elefanten mit, um einander ihre Gefühle mitzuteilen und klarzustellen, in welcher Beziehung sie zueinander stehen.

Die Forscherin Joyce Poole bezeichnet dies als eine «Bonding»-Zeremonie. Ihre Teilnehmer signalisieren damit laut Poole sich selbst und entfernten Zuhörern, dass sie «zusammen eine Einheit bilden und eine geschlossene Front darstellen».[109]

«Wie man sehen kann, ob es sich um gute Freunde oder enge Verwandte handelt?», fragt Vicki rhetorisch. «Ihre Art, sich zu begrüßen, verrät es.» Je intensiver und enthusiastischer die Begrüßung ist, desto enger ist die Beziehung. Freudig erregte Elefanten greifen oftmals in einer dramatischen Geste nach dem Rüssel des anderen und drücken ihre Körper aneinander. Sie trompeten, kollern, greifen sich mit dem Rüssel gegenseitig ins Gesicht oder ins Maul, flattern mit den Ohren und klappern mit den Stoßzähnen. Einen «begeisterten» Elefanten erkennt man auf den ersten Blick.[110]

Elefanten kommunizieren mit über hundert ritualisierten Gesten in unterschiedlichen Kontexten, wobei die Bedeutungsvermittlung durch den Kontext unterstützt wird.[111] Unentschlossene und zaghafte Elefanten stehen nur lauschend und beobachtend da, während sie ihre Rüsselspitze hin- und herdrehen. Manchmal berühren sie sich dabei an Gesicht, Mund, Ohren oder Rüssel, um sich selbst zu beruhigen, ähnlich wie ein Mensch sich an die Wange fasst oder sein Kinn in die Hand stützt. Regelmäßiges Rufen aus nächster Nähe stärkt die Familienbande, gleicht Differenzen aus, dient der Verteidigung, bildet Seilschaften, koordiniert Bewegungen und erhält den Kontakt aufrecht. Für manche Laute nutzen Elefanten ihre Stimmbänder, für andere ihren Rüssel.[112]

Wenn es zwischen Elefanten Streit gibt, hilft manchmal ein Schlichter bei der Einigung. Forscher hielten fest: «Eine dritte Partei, wie etwa eine Leitkuh oder eine enge Vertraute der gekränkten Elefantin initiiert die Wiederversöhnung. Sie geht auf die Streithähne, die sich Kopf an Kopf gegenüberstehen, zu … und kollert mit hoch erhobenem Kopf und aufgestellten Ohren, während sie in einer affiliativen Geste den Rüssel nach der anderen Elefantin ausstreckt».[113]

Vicki ist in meinem Namen ein wenig enttäuscht, dass die gerade stattfindende Begrüßungszeremonie ein wenig an Lebhaftigkeit zu wünschen übrig lässt. «Wenn die EBs da wären, wäre es überwältigend gewesen, voller Begeisterung und Trompeten, sie hätten sich ständig aneinander gerieben und sich gegenseitig berührt – wir nennen sie die italienische Familie, weil sie so unglaublich ausdrucksvoll ist. Hier haben wir es nicht gerade mit einem euphorischen Treffen zu tun.»

Die JAs sind eine kleine Familie und haben keinen Grund, euphorisch zu sein. «Sie wurden von einer wunderbaren Leitkuh angeführt», erzählt Vicki. «Sie wurde von einem Speer getroffen und starb. Die nachfolgende Matriarchin starb während der Dürre.» Durch den Verlust ihrer Ältesten scheint die Familie auch an Emotionalität eingebüßt zu haben. «Wer»-Tiere trifft der Tod am härtesten oder genauer, die Überlebenden.

Fast die ganze Familie hat sich hinter den Büschen versteckt. Nahe bei uns steht Jamila. Dann kommt ein Bulle, der sich gerade einen Rüssel voll Gras auf den Kopf geworfen hat. Es ist der neun Jahre alte Jeremy. Zu seiner Rechten sehen wir Jolene, die derzeitige Leitkuh der Gruppe. Neben ihr steht Jean, die gerade eine Fehlgeburt hatte. Und die Kuh mit den nach oben gebogenen Stoßzähnen ist Jody. Jolene gilt als sehr feinfühlig, außerdem als gelassen und beschwichtigend. Sie geht mit gutem Beispiel voran. «Die Familienmitglieder gehen sehr liebevoll miteinander um, es herrscht ein großer Zusammenhalt. Es ist eine meiner Lieblingsfamilien», gesteht Vicki voller Zuneigung.

Die JAs sorgten auch für eine große Überraschung: Gentests ergaben, dass Jolene, Jamila und Jody keine engen Verwandten sind. «Sie sind Freunde, die sich zu einer Familie zusammengeschlossen haben. Sie stehen sich sehr nahe und verbringen ihr Leben miteinander; die ganze Zeit haben sie Körperkontakt oder reiben sich aneinander. Schau nur, Jamila begrüßt das kleine Kalb. ‹Hallo, wir sind alle da.›»

Jolene muss gerade mit Jetta geredet haben. Diese steht nun Gesicht an Gesicht mit Jody. Beiden rinnt Flüssigkeit aus den Temporaldrüsen.

Jody hat ihre Ohren nach vorne gestreckt. «Das bedeutet, dass sie zuhört», erklärt Vicki. «Hast du gesehen, wie sie gerade ganz leicht mit den Ohren gewackelt hat? Sie führen einen Dialog.»

Ich frage mich, warum ich sie nicht hören kann.

Ein wenig verschwörerisch meint Vicki: «Oft können wir sie zwar nicht hören und dennoch sagen, ‹Ich kann fühlen, dass hier irgendwo Elefanten sind› oder ‹Ich spüre die Elefanten›. Wir alle nehmen es wahr, wenn Elefanten in der Nähe sind. Warum das so ist, weiß keiner. Es ist etwas sehr Subtiles, dessen wir uns überhaupt nicht bewusst sind. Ich denke, dass wir ihre Rufe im Infraschallbereich zwar spüren, uns aber nicht darüber bewusst sind.»

Die Stimme der Elefanten umfasst zehn Oktaven, von einem Kollern im Infraschallbereich bis zu einem Trompeten, das acht- bis zehntausend Hertz haben kann.[114] Versuche mit Instrumenten, die sehr niedrige Töne so umwandeln können, dass der Mensch sie hören kann, haben ergeben, dass Elefanten, die so...