Der Tod so kalt - Thriller

von: Luca D'Andrea

Deutsche Verlags-Anstalt, 2017

ISBN: 9783641211394 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Der Tod so kalt - Thriller


 

(We are) the Road Crew

1.

Im Leben wie in der Kunst zählt nur eines: die Wahrheit. Um zur Wahrheit über Evi, Kurt und Markus und die Nacht des 28. April 1985 zu kommen, müsst ihr alles über mich wissen. Denn es gibt nicht nur 1985 und das Massaker am Bletterbach, sondern auch 2014. Es gibt nicht nur Evi, Kurt und Markus, sondern auch Salinger, Annelise und Clara.

Alles hängt zusammen.

2.

Bis um 14 Uhr 22 am 15. September jenes Jahres, bis zu dem Moment also, als die Bestie mich fast getötet hätte, galt ich als Teil eines neuen, aufsteigenden Doppelsterns am Dokumentarfilmhimmel, der, wie ich fand, allerdings nichts als winzige Meteoriten und verheerende Flatulenzen hervorbrachte. Mike McMellan, der andere Teil nämlicher Konstellation, pflegte zu sagen, immerhin würden wir so als Helden verglühen. Nach dem dritten Bier war ich vollkommen seiner Meinung.

In Mike hatte ich den besten Freund gefunden, den man sich vorstellen kann. Nervig, großspurig und egozentrisch, ein Besessener, der sich mit der Zwanghaftigkeit eines gedopten Kanarienvogels in ein Thema verkrallen konnte. Aber auch der einzige wahre Künstler, dem ich je begegnet bin.

Wir waren das uncoolste Nichtskönner-Gespann an der New Yorker Film Academy (Mike lernte Regie, ich Drehbuch), bis Mike die Erleuchtung hatte, die unser Leben verändern sollte. Es war ein wahrhaft magischer Moment. Als es passierte, hockten wir gerade völlig gefrustet bei McDonald’s und stocherten in unseren Fritten, aber es war trotzdem einmalig. Glaubt mir.

»Scheiß auf Hollywood, Salinger«, hatte Mike gesagt. »Die Leute lechzen nach Realität. Wir müssen uns auf die gute alte, verlässliche Wirklichkeit stürzen. Hundert Prozent.«

Was Mike an diesem feuchten Novembertag vor vielen Jahren sagen wollte, war, dass ich meine (erbärmlichen) Drehbücher in die Tonne treten und mit ihm Dokumentarfilme machen sollte. Völlig irre.

»Mike …«, stöhnte ich. »Dokumentarfilmer sind alles Arschlöcher. Die horten sämtliche Nummern des National Geographic und haben Vorfahren, die auf der Suche nach den Quellen des Nils gestorben sind. Die glauben, sie könnten sich alles erlauben. Deren Familien schwimmen in Geld.«

»Salinger, manchmal bist du echt …« Mike schüttelte den Kopf. »Vergiss es, hör mir zu. Wir brauchen ein Thema. Ein starkes Thema für eine Doku, die alle umhaut. Etwas, das die Leute schon kennen, das wir ihnen aber so zeigen, wie sie es noch nie gesehen haben.«

Und ob ihr’s glaubt oder nicht: Ich hatte eine Idee. Ich weiß nicht, warum, aber als Mike mich mit finsterer Killermiene anstarrte und mir eine Million Gründe durch den Kopf schossen, ihn für bescheuert zu erklären, machte es in meinem Hirn plötzlich lautstark klick: Was konnte heißer, spannender und sexyer sein als der gute alte Rock ’n’ Roll?

Ein Kick, der Generationen verband. Millionen von Menschen betrachteten ihn als Religion. Es gab niemanden auf der Welt, der noch nicht von Elvis, Hendrix, den Rolling Stones, Nirvana, Metallica und der ganzen bunten Zirkuskarawane der einzig wahren Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts gehört hatte. Rock ’n’ Roll war überall. Man musste nur die Kamera draufhalten.

Ganz einfach, oder?

Nun ja.

Rockmusik bedeutete auch schwarz gekleidete Muskelprotze mit Pitbullvisagen, die dafür bezahlt wurden, Leuten wie uns eins aufs Maul zu geben. Wahrscheinlich hätten sie es sogar gratis getan. Ergo: Wir sammelten mehr blaue Flecke als Material. Die Versuchung, alles hinzuschmeißen, war groß.

Da blickte der Gott der Rockmusik auf uns herab, sah unsere kläglichen Versuche, ihm zu huldigen, und wies uns mit mildem Blick den Weg zum Erfolg.

3.

Mitte April zog ich uns einen Job als Bühnenbauer in Battery Park an Land. Nicht für irgendeine Band, sondern für die umstrittenste, teuflischste und berüchtigtste Band aller Zeiten. Meine Damen und Herren: Kiss.

Wir schufteten wie die Ameisen, handelten uns aber weiterhin Prügel ein. Als wir nach einer Show wieder einmal ramponiert auf einer zugemüllten Parkbank saßen und völlig belämmert zusahen, wie sich die Zuschauermenge verlief, tauchten kräftige Kerle mit Hells-Angels-Bärten und Knastvisagen auf, die Boxen und Verstärker auf die Peterbilts der Band verluden. Das war der Moment, in dem der Gott des Hardrock aus seiner Walhalla hervorlugte und mir den Weg wies.

»Mike«, raunte ich. »Wir haben alles falsch gemacht. Wir müssen von der anderen Seite der Bühne filmen. Von der anderen Seite, Partner! Diese Typen sind die echten Rocker. Und«, fügte ich grinsend hinzu, »auf denen liegt kein Copyright.«

Die Roadies. Die Typen, die die Drecksarbeit erledigen, die achtachsigen Lkw beladen, sie kreuz und quer durchs Land kutschieren, sie entladen, die Bühne aufbauen, die Technik klarmachen, mit verschränkten Armen das Ende der Show abwarten, alles abtakeln, zusammenpacken und sich wieder auf den Weg machen. Wie heißt es bei Robert Frost: »Und Meilen noch, bevor ich endlich schlafen kann.«

Mike war wirklich unglaublich. Er schaffte es, einen zu Tode gelangweilten Tourmanager so hartnäckig mit Wahnsinnseinnahmen und Gratiswerbung zu ködern, bis er uns die Genehmigung gab, ein paar Aufnahmen zu machen. Die Roadies, die so viel Aufmerksamkeit nicht gewohnt waren, nahmen uns unter ihre Fittiche. Nicht nur das: Sie überredeten die Manager und Anwälte, dass wir sie (sie, nicht die Band – das war der entscheidende Joker) während der gesamten Tour begleiten durften. Und so entstand Zum Schwitzen geboren: Road Crew, die dunkle Seite des Rock ’n’ Roll.

Wir haben uns den Arsch aufgerissen. Sechs Wochen Wahnsinn, Migräne, Vollrausch und Schweiß, an deren Ende wir zwei Kameras geschrottet, uns mehrere Lebensmittelvergiftungen und einen verstauchten Knöchel zugezogen (ich war auf das Dach eines Wohnwagens geklettert, das brüchig wie Blätterteig war – ich war nüchtern, ich schwöre!) und zwölf verschiedene Betonungen von »fuck you« gelernt hatten.

Der Schnitt dauerte einen ganzen, vierzig Grad heißen Sommer, in dem wir einander vor dem kochend heißen Bildschirm fast umgebracht hätten, aber Anfang September 2003 hatten wir unseren Dokumentarfilm nicht nur fertig, sondern waren auch noch damit zufrieden. Wir zeigten ihn einem Produzenten namens Smith, der uns widerwillig fünf Minuten – fünf! – seiner Zeit gewährt hatte.

Es reichten drei.

»Ein Factual«, konstatierte der Zampano. »Zwölf Folgen à fünfundzwanzig Minuten. Und zwar bis Anfang November. Schafft ihr das?«

Lächeln und Handschläge. Dann brachte uns ein stinkender Bus nach Hause. Ratlos schauten wir auf Wikipedia nach, was, zum Henker, ein Factual war. Die Antwort lautete: ein Mittelding aus Fernsehserie und Dokumentarfilm. Wir hatten weniger als zwei Monate, um alles neu zu schneiden.

Unmöglich?

Also, bitte!

Anfang Dezember desselben Jahres ging Road Crew auf Sendung. Die Einschaltquoten waren gigantisch.

Plötzlich waren wir in aller Munde. Professor »Ihr könnt mich Jerry nennen« Calhoun, der verbitterte Exhippie, der unsere ersten Machwerke mit Hingabe in der Luft zerrissen hatte, ließ sich fotografieren, während er uns eine Auszeichnung für besonders verdienstvolle Studenten überreichte. Die Blogs sprachen über Road Crew, die Zeitungen sprachen über Road Crew. MTV brachte ein Special mit Ozzy Osbourne, der zu Mikes großer Enttäuschung nicht eine einzige Fledermaus verspeiste.

Doch es war nicht alles eitel Sonnenschein. Maddie Grady vom New Yorker hackte uns mit einer stumpfen Axt in Stücke – fünftausend Wörter, die mir monatelang nachgingen. Laut GQ waren wir frauenfeindlich. Life hielt uns für Misanthropen. Für Vogue waren wir die fleischgewordene Rache der Generation X. Das traf uns wirklich tief.

Im März des folgenden Jahres ließ uns Smith den Vertrag für eine zweite Staffel Road Crew unterschreiben. Die Welt gehörte uns. Dann, kurz vor dem Drehstart, passierte etwas, das alle und vor allem mich selbst überraschte.

Ich verliebte mich.

4.

So seltsam es klingen mag, schuld an allem war »Ihr könnt mich Jerry nennen« Calhoun. Er hatte eine Sondervorführung von Road Crew organisiert, gefolgt von der unvermeidlichen Podiumsdiskussion mit seinen Studenten. »Podiumsdiskussion« stank verdächtig nach Falle, aber Mike (der vielleicht hoffte, sich an unserem ehemaligen Lehrer und an der ganzen Welt rächen zu können) bestand auf der Sache, und ich hatte mich gefügt wie immer, wenn Mike sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.

Das Wesen, das mein Herz eroberte, saß in der dritten Reihe, halb verdeckt von einem drei Zentner schweren Fettsack (ein Blogosphären-Fan, durchschoss es mich sofort), in Calhouns gefürchtetem Hörsaal.

Am Ende der Vorführung wollte der Fettsack als Erster etwas vom Stapel lassen. Das, was er in seinem fünfunddreißig Minuten langen Redeschwall von sich gab, lässt sich wie folgt zusammenfassen: »Scheiße hier, Scheiße da, in allen vier Ecken soll Scheiße drin stecken.« Dann wischte er sich zufrieden einen Spuckefaden von den Lippen, setzte sich hin und verschränkte mit einem herausfordernden kleinen Grinsen auf seinem Pfannkuchengesicht die...