Die ägyptische Muslimbruderschaft - Von der Utopie zur Realpolitik

von: Christian Wolff

Diplomica Verlag GmbH, 2008

ISBN: 9783836614344 , 188 Seiten

Format: PDF, OL

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Preis: 34,99 EUR

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Die ägyptische Muslimbruderschaft - Von der Utopie zur Realpolitik


 

Kapitel 6.5, Die Parlamentswahlen 2005: Bei den Parlamentswahlen im Jahr 2005 konnte die Muslimbruderschaft einen Überraschungserfolg erzielen. Sie war - aufgrund des geänderten Wahlgesetzes - mit unabhängigen Kandidaten angetreten und eroberte 88 Sitze im Parlament. Im Vergleich zu den insgesamt 454 Parlamentariern ist dies zwar keine Zahl, die die Mehrheit der NDP angreifen könnte, zeigt aber, dass die Muslimbruderschaft, die als stärkste Oppositionskraft in das Parlament eingezogen ist, die wichtigste politische Kraft neben der NDP in Ägypten darstellt. Die Bruderschaft ist diese Wahlen mit höchster Professionalität angegangen und hat beispielsweise vor jedem Wahlbüro eigene Vertreter, die mit modernen Kommunikationsmitteln ausgestattet waren, positioniert, die anhand der zugänglichen Wählerverzeichnisse noch am Wahltag ihre potentiellen Wähler an die Urnen riefen. In den ersten zwei Wahlgängen gelang es der Muslimbruderschaft, insgesamt 76 Mandate zu erreichen. Dies hatte zur Folge, dass das Regime die im Rahmen des Kairoer Frühlings (siehe Kapitel 8) angegangenen Reformen in Teilen wieder rückgängig machte und es zu zahlreichen Repressionen in Wahlbezirken kam, die mutmaßlich von der Bruderschaft dominiert waren. Dabei wurden einzelne Wahllokale komplett für Anhänger der Opposition gesperrt oder Ausschreitungen durch die Sicherheitskräfte angezettelt, die dann unter Einsatz paramilitärischer Gewalt bekämpft wurden. Es gab im Zusammenhang mit dieser Wahl jedoch auch vereinzelt Stimmen, die vermuteten, dass die regierende NDP und die Muslimbruderschaft ein Bündnis eingegangen wären. Es hieß, dass es eine Vereinbarung darüber gegeben habe, dass die Bruderschaft die Präsidentschaftskandidatur Mubaraks nicht gefährden würde und dafür in neuer Stärke in das Parlament einziehen dürfe. Gegen das Bestehen eines solchen Bündnisses spricht jedoch, dass wohl auch die NDP überrascht davon war, welchen Erfolg die Muslimbruderschaft in den Wahlen tatsächlich erreichen konnte. Außerdem muss man hierzu in Betracht ziehen, dass der Erfolg noch höher hätte ausfallen können, wenn die Bruderschaft tatsächlich in jedem Wahlkreis um ein Mandat gekämpft hätte. Der Wahlerfolg wird von einigen Beobachtern, die erklären, dass man zu den Stimmen für die Bruderschaft ein erhebliches Potential an Protestwählern hinzurechnen müsse, jedoch relativiert. Bedingt durch die anhaltenden wirtschaftlichen Probleme, denen sich viele Ägypter aufgrund einer verfehlten Wirtschaftspolitik des Regimes gegenüber sahen, wollte man - so schien es - der NDP durch die Wahl der Bruderschaft eine Art politischen 'Denkzettel' geben. Die Muslimbruderschaft wurde vom Regime teilweise auch in ihrem Wahlkampf unterstützt. Dies geschah besonders dadurch, dass die ägyptische Regierung der Bruderschaft gerade im sozialen Bereich gesellschaftliche Betätigungsfelder überließ, um so die Staatsausgaben zu senken. Außerdem konnte sich die Muslimbruderschaft durch ihre langfristig vorgetragenen Reformforderungen ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit erarbeiten. Ebenso war es für die Muslimbruderschaft recht einfach, der religiös sensibilisierten Bevölkerung mit Slogans vom 'Islam als Lösung' Alternativen zur säkulären NDP anzubieten. Die Wahlen 2005 zeigen, dass die Muslimbruderschaft ihre Wahlkampfstrategie äußerst professionell und in realpolitischer Manier an den Interessen der Bevölkerung ausgerichtet hat, indem sie Themen wie Bildung, Gesundheit und Arbeitslosigkeit plakativ aufgegriffen hat und mit ihren Lösungen der 'good governance' verbunden hat. Zusammen mit der religiösen Konnotation der Bruderschaft hat dies einen bedeutenden Stimmenzuwachs erzeugt. Die Strategie zeigt aber auch, dass die Bruderschaft ihre Ideologie konkretisiert hat und so letztendlich die Utopie des islamischen Staates zugunsten eines zivilen demokratischen islamischen Staates verändern konnte. Die Strategie des Regimes, in der Bevölkerung Furcht vor einer islamistischen Muslimbruderschaft aufzubauen und so nach dem Motto 'Wenn nicht wir regieren, dann regieren die' die Macht zu sichern scheint deshalb nicht aufgegangen zu sein. Gerade die aktuelle Ankündigung der Muslimbruderschaft, eine Partei gründen zu wollen und ein konkretes auf dem Prinzip der Bürgergesellschaft aufbauendes Staatswesen als Alternative zum autoritären Regime anzubieten, führt die Konfrontationstaktik der NDP-Regierung ad absurdum. Die Muslimbruderschaft - so wird im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit zu zeigen sein - hat sich in einem langfristigen ideologischen Prozess reformiert und sich gerade aus der Konfrontation mit dem autoritären Staat heraus demokratisiert.