Die Knochenjägerin - Vier Fälle für Tempe Brennan

von: Kathy Reichs

Blessing, 2017

ISBN: 9783641203801 , 432 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die Knochenjägerin - Vier Fälle für Tempe Brennan


 

1

März. Noch kaum Frühling, und doch gab mir die auch in Florida für diese Jahreszeit ungewöhnliche Schwüle das Gefühl, aus dem Flugzeug direkt in das Maul eines Rottweilers zu treten. Zum hundertsten Mal seit meiner Ankunft verfluchte ich mich, weil ich mir die Everglades als Urlaubsziel ausgesucht hatte. Auch meine Frisur reagierte ziemlich ungehalten.

Ich konnte zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen, dass schlaffes Lockenhaar das geringste meiner Probleme sein und sich mein Urlaubsziel sehr schnell in einen dunklen und grausigen Ort verwandeln würde. In der ersten Stunde in den Everglades war ich einfach nur verschwitzt und genervt.

Das Daniel Beard Research Center war im Kalten Krieg eine Raketenbasis gewesen und sah immer noch so aus, obwohl man ihm inzwischen einen flamingorosa Anstrich verpasst hatte. Die Farbe ließ das Logo des National Park Service so richtig knallen. Als ich die Tür aufstieß, war mir die übereifrige Klimaanlage sehr willkommen. Ich bekam sofort eine Gänsehaut, doch mein schlapper Pferdeschwanz war zu hinüber, um sich noch zu erholen.

Ich durchquerte den öffentlichen Bereich in Richtung der Geschäftsräume des Gebäudes. Eine Frau hinter einem zerkratzten hölzernen Schreibtisch beobachtete mich, während ich mich näherte. Beige Haare, beige Haut, korallenrote Lippen. Der strenge Blick sagte mir, dass sie ihre Torwächterpflichten gewissenhaft erfüllte. Im Ernst? Musste das South Florida Natural Resources Center wirklich beschützt werden?

»Dr. Tempe Brennan«, sagte ich so fröhlich, wie ich konnte. »Ich möchte gern zu Dr. Robbin.«

»Ich habe Sie hier nicht als Besucherin eingetragen«, erwiderte die Torwächterin, ohne den Blick zu senken, um auf eine Liste zu schauen.

Ich lächelte entwaffnend. Sie nicht.

Ich lächelte weiter, bis meine Gegnerin nachgab und sagte: »Die Vogeldame ist in Labor B.« Sie hielt mir ein Klemmbrett vor die Nase. »John Hancock Building.«

Nachdem ich mich eingetragen und ins starre Auge einer Kamera geschaut hatte, die schließlich einen Besucherausweis ausspuckte, ging ich, mein ernst dreinblickendes Konterfei an der Brust, den Gang entlang. An die Wand gemalte Pfeile führten mich zu Labor B. Durch das kleine rechteckige Fenster in der Tür sah ich eine zierliche Blondine, die über eine Edelstahlpritsche gebeugt stand.

Ich klopfte mit den Fingerknöcheln ans Glas, und die Frau schaute hoch und kniff die Augen zusammen. Als sie mich erkannte, zog sie die Maske herunter und zeigte ein breites Grinsen. Froh, mich zu sehen, oder amüsiert über mein verwelktes Aussehen? Die Frau winkte mit latexumhüllter Hand.

Das Labor roch nach Chemikalien und Verwesung, eine vertraute Mischung, die mich eher an die Arbeit und weniger an Sand und Strand denken ließ. Zum Glück würde dieser Abstecher nicht lange dauern – ich war nur hier, um die Schlüssel zum Haus meiner Gastgeberin abzuholen. Der neueste Roman von Jodi Picoult wartete in einer Strandtasche in meiner Reisetasche. Tschüss, Winterstiefel, hallo, Flipflops.

»Tempe!« Lisa Robbin schoss herbei, um mich zu umarmen, eine Geste, die, bei ihrer Größe, ihren Kopf irgendwo in die Höhe meines Bauchs brachte. Ich drückte sie einmal schnell, wie es Nichtumarmer eben tun.

»Tut mir leid, dass ich dich nicht wie versprochen vom Flughafen abholen konnte. Ich weiß, wie umständlich es ist, mit dem Taxi hierherzufahren. Aber ich habe eben eine Rekordmenge an Paketen erhalten.« Lisa deutete zu dem Untersuchungstisch, der sieben Klumpen enthielt, die an dehydrierte überfahrene Tiere erinnerten.

Dr. Lisa Robbin war ein Vögelchen, nicht nur dem Namen nach, auch durch Eigenart und Berufung: Sie war Leiterin des Smithsonian Feather Identification Lab und eine Pionierin der forensischen Ornithologie. Wir hatten uns bei Beratereinsätzen in einem Fall in South Texas kennengelernt. Ein Bus, in dem ein Schmuggler von exotischen Vögeln und seine Beute saßen, war über eine Klippe gestürzt und explodiert. Ich hatte die menschlichen Knochen übernommen, Lisa die Klauen und Schnäbel.

Das ist alles nicht so bizarr, wie es klingt. Lisa und ich untersuchen beide Tote, die für eine normale Autopsie zu beschädigt sind. In ihrem Fall nennt man das Nekropsie, Kadaverschau, weil ihre Untersuchungsgegenstände nicht menschlich sind. Wir bearbeiten die Skelettierten, die Mumifizierten, die Verwesten, die Zerstückelten und Verstümmelten, oder – im Fall dieses Busunglücks – die Verbrannten und Verkohlten.

Als forensische Anthropologin bin ich Spezialistin für das menschliche Skelett. Ich betrachte die Knochen derer, die man nicht mehr erkennen und identifizieren kann, und suche nach Hinweisen auf Alter, Geschlecht, Abstammung und Größe. Ich stelle Charakteristika und Anomalien fest. Alles, um den Überresten einen Namen und, wenn nötig, die Art und den Zeitpunkt des Todes zuzuordnen. Ich weiß nicht so recht, was Lisa mit ihren Vögeln macht.

Wir waren uns über den Opfern des Busunfalls nähergekommen, hatten uns gegenseitig Knochenfragmente gegeben, sie mir menschliche, ich ihr die von Vögeln. Ich mochte sie. Nach meiner Rückkehr nach North Carolina und Lisas nach Washington, D. C., waren wir in Kontakt geblieben, »zwei aus einem Nest« in männlich dominierten Bereichen.

»Ich freue mich ja so, dass du hier bist.« Sie legte den Kopf schief, schnell wie ein Spatz. »Ich weiß, wir haben über einen Besuch gesprochen, aber ich war mir nicht sicher, ob du es schaffen würdest.«

Zu meiner Vorstellung von Urlaub gehören normalerweise das blaue Wasser der Bahamas, Meeresbrisen und sehr viel Sand. Aber Lisas wiederholte Einladung war während eines perfekten Sturms der Frustration in meinem Posteingang gelandet: ein Streit mit meinem Fakultätsleiter an der UNCC. Ein Zusammenstoß mit einem reizbaren Staatsanwalt wegen meines Berichts über ein Mordopfer. Verdauungsprobleme meines Katers Birdie, die mich einen neuen Teppichboden im Wohnzimmer kosteten. Der Riss des Keilriemens in meinem Mazda mitten im Stoßverkehr.

Letzteres hatte das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Alles, was recht ist. Nachdem ich zwei Stunden lang Eau de I-77 eingeatmet hatte, weil ich auf die Pannenhilfe warten musste, öffnete ich aus lauter Langeweile die Reise-App auf meinem Smartphone. Eine Lektion fürs Leben, warum man einen Urlaub nicht aus dem Bauch heraus planen sollte. Eine Wutbuchung, und man landet in Sümpfen und Blutegeln statt in Sand und Wellen.

»Florida erwartet Sie! Unsere Alligatoren auch!«, witzelte ich lahm.

»Ach, komm. Die Everglades sind klasse. Du hast noch nie eine solche Vielfalt einheimischer Vögel gesehen.«

Ich wusste, dass mir jetzt ein ausführlicher Vortrag über die indigenen gefiederten Freunde Floridas bevorstand. Dachte mir, dass das Leben ganz gut auch ohne weitergehen könnte.

»Ich habe allen möglichen Spaß geplant.« Lisa zwitscherte wirklich. »Und wenn ich arbeiten muss, kannst du mein Auto haben.«

»Ich dachte, dein normales Revier ist oben in unserer Hauptstadt«, sagte ich, während ich meine Reisetasche von der Schulter auf den Boden gleiten ließ.

Sie lachte. »Ich bin nach Florida gezogen, um der Feuchtigkeit in Washington zu entgehen.«

»Im Ernst?«

»Nein. Ich habe nur die Gelegenheit ergriffen, mal was anderes zu machen als nur Vogelschlag.«

»Das klingt aber brutal. Lass mich raten: Die meisten Vögel treten im Federgewicht an.«

»Vogelkontakt mit Flugzeugen.« Sie verdrehte die Augen über meinen kläglichen Witzversuch.

»Autsch.«

»Genau. Der Vogel gewinnt nie.«

»Ich dachte, du würdest Federn in der anthropologischen Sammlung des Smithsonian untersuchen.«

»Federn auf uralten Masken oder Kleidungsstücken sind nur ein sehr kleiner Teil meiner Arbeit. Aber das Feather Identification Lab hat einen Kooperationsvertrag mit der Federal Aviation Administration, der Air Force und der Navy, also sowohl der zivilen Flugaufsicht wie dem Militär. Der größte Teil meiner Arbeit hat mit Vogelschlag zu tun.«

»Kommt der so häufig vor?« Setzen Sie gefiederte Kamikaze auf meine wachsende Liste von Reiseproblemen.

Sie nickte. »Vögel haben den US-Airways-Flug 1549 in den Hudson River umgeleitet. Sogar Wilbur Wright hatte einmal Vogelschlag. Im letzten Jahr hat unser Team über viertausend Exemplare bearbeitet. Fast zwanzig pro Tag und noch mehr während des Vogelzugs im Frühling und im Herbst.«

»Ach du meine Güte. Wie kannst du da mithalten?«

Sie warf ihren »Paketen« einen Blick zu. »Kleinere Proben. Wir bekommen nur selten komplette Kadaver. Manchmal kriege ich ganze Federn oder ein paar Knochen, aber oft ist meine Probe nicht mehr als ein Schmierfleck, der von der Flugzeughülle gewischt wurde. Wir nennen das ›Snarge‹. Bei einer Snarge dauert das Katalogisieren nur eine Stunde.«

Snarge. Die Ornithologen haben die lustigsten Wörter.

»Wir arbeiten mit einem Labor zusammen, das die DNS analysiert.«

»Und wozu das?«

»Wenn wir die Art identifizieren können, die diese Schäden verursachte, kann ein Flughafen sich darauf einstellen.«

»Wie?«

»Einen Teich verlegen, Rasenflächen verkleinern, alles, was nötig ist, um die Umgebung für diese spezielle Art weniger attraktiv zu machen. Da Vogelschlag meistens bei Start oder Landung passiert, kann eine Anpassung der unmittelbaren Umgebung eines Flughafens das Risiko verringern.«

»Wie viele Flughäfen haben die Everglades?«

»Keinen, der mich was angeht. Ich bin...