Grundwissen Internetrecht - mit Schaubildern und Fallbeispielen

von: Volker M. Haug

Kohlhammer Verlag, 2016

ISBN: 9783170290556 , 401 Seiten

3. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 32,99 EUR

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Grundwissen Internetrecht - mit Schaubildern und Fallbeispielen


 

Kapitel 1:Einführung


1.1Das Internet als alltagsprägendes Massenmedium


1Im Zentrum des allgemeinen Medienbegriffs steht die Vermittlerfunktion: Medien zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie zwischen Menschen Informationen, Nachrichten und Meinungen vermitteln. Die Einteilung der verschiedenen Formen von Medien bewegt sich zwischen den Polen klassische/digitale Medien und Massen-/Individualmedien. Unter den Klassischen Medien werden die schon seit langem vorhandenen Vermittlungsformen verstanden, während mit den Digitalen Medien die vielfältigen Erscheinungsformen des Internets bezeichnet werden. Massenmedien wiederum zeichnen sich dadurch aus, dass sich eine Person oder Personengruppe an eine nicht mehr überschau- oder begrenzbare Personenmasse wendet, während über Individualmedien einzelne Personen oder bestimmbare Personengruppen miteinander kommunizieren:1

Übersicht 1: Medienbegriffe

2Die digitalen Medien durchbrechen in zwei zentralen Punkten die bei klassischen Medien geltenden Grenzen:

•  Interaktivität: Bei den digitalen Medien verlieren sich die Grenzen zwischen Massen- und Individualmedien. So ist beispielsweise ein Forum oder ein Portal, das weltweit von jedem User eingesehen werden kann, ein Massenmedium, das in dem Moment zum Individualmedium wird, in dem der User mitpostet. Im interaktiven „Mitmach-Web“ wird die „klassische mediale Einbahnstraße“ von Sendern zu Empfängern überwunden,2 weshalb die User auch als „Prosumer“ – also Produzent und Konsument in einer Person – bezeichnet werden.

•  Internationalität: Gleichzeitig zeichnen sich die digitalen Medien durch eine absolute und grenzenlose Internationalität aus, womit auch Probleme der erschwerten Kontrolle und Rechtsverfolgung verbunden sind.

3Das Internet ist jedoch noch mehr als „nur“ ein Massen- oder Individualmedium zu Kommunikationszwecken. Es prägt den Alltag und das Leben der Menschen in vielfacher Hinsicht. Dadurch verfügt es über eine enorme ökonomische, gesellschaftliche, politische und schließlich auch rechtliche Bedeutung. Deshalb hat inzwischen der Bundesgerichtshof die besondere Querschnittsbedeutung des Internets anerkannt, indem er den Ausfall des Internetzugangs als ersatzfähigen Vermögensschaden eingestuft hat.3 In der Begründung dazu heißt es wörtlich:

„Die Nutzbarkeit des Internets ist ein Wirtschaftsgut, dessen ständige Verfügbarkeit […] auch im privaten Bereich für die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise von zentraler Bedeutung ist und bei dem sich eine Funktionsstörung als solche auf die materiale Grundlage der Lebenshaltung signifikant auswirkt. […] Damit hat sich das Internet zu einem die Lebensgestaltung eines Großteils der Bevölkerung entscheidend mitprägenden Medium entwickelt, dessen Ausfall sich signifikant im Alltag bemerkbar macht. Die Unterbrechung des Internetzugangs hat typischerweise Auswirkungen, die in ihrer Intensität mit dem Fortfall der Möglichkeit, ein Kraftfahrzeug zu nutzen, ohne Weiteres vergleichbar sind.“4

4Es ist daher nur konsequent, das Internet auch als „kritische Infrastruktur“ anzusehen. Darunter versteht man „Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen […], bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung erhebliche Versorgungsengpässe bis hin zu Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten können“.5 Da wesentliche Bereiche sowohl des privaten als auch des öffentlichen Lebens ohne Internet nicht mehr (hinreichend) funktionsfähig sind – wie z. B. die Energieversorgung, der Verkehrs- und der Finanzsektor sowie die Arbeit von Medien, Bildungseinrichtungen und Forschungsinstitutionen –, trifft diese Definition auch auf das Internet zu.6 Dem trägt angesichts der Bedrohung durch „Cyber-Attacken“ auf öffentliche und private Institutionen auch der Gesetzgeber Rechnung. So liegen sowohl ein Vorschlag für eine EU-Richtlinie zur Netz- und Informationssicherheit als auch ein jüngst in Kraft getretenes IT-Sicherheitsgesetz des Bundes vor, die ebenfalls mit dem Begriff der kritischen Infrastruktur arbeiten.7

1.2Das Internetrecht


1.2.1Keine rechtliche „Vogelfreiheit“ im Internet


5Das Internet stellt die Rechtsordnung(en) vor besondere Herausforderungen. Dies gilt in erster Linie für seine Internationalität, die bei den nationalen Einzel-Rechtsordnungen zu einem hohen Defizit der Rechtsdurchsetzung führt. So sind beispielsweise die deutschen Behörden weitgehend machtlos, wenn auf einem amerikanischen Server Nazi-Verherrlichungen angeboten werden.8 Hinzu kommt die rasante technische Entwicklung der elektronischen Kommunikationsformen (wer kannte vor einigen Jahren „WhatsApp“?). Viele Erscheinungsformen sind derart neuartig, dass sie mit dem vorhandenen rechtlichen Instrumentarium allenfalls unzureichend erfasst werden können. Deshalb sind Gesetzgeber und Rechtsprechung häufig erst als Reaktion hierauf tätig geworden, was meist mit erheblichen zeitlichen Verzögerungen verbunden ist. 9

6Diese faktischen Durch- und Umsetzungsprobleme haben schon bei manchen Angehörigen der Internetgemeinde den (irrigen!) Eindruck verursacht, das Internet genieße eine gewisse rechtliche „Vogelfreiheit“. Auch ist die Akzeptanz rechtlicher Regeln im Internet unterentwickelt, weil sich das freiheitliche Lebensgefühl vieler User mit rechtlichen Bindungen nicht verträgt und technisch vieles möglich ist, was rechtlich unzulässig ist – nach dem Grundsatz: „Technik vor Recht“.10 Aber diese rechtlichen Bindungen sind ja kein Selbstzweck, sondern dienen – wie das gesamte Recht – zentralen Schutzbedürfnissen in der Gesellschaft: dem Persönlichkeitsschutz, dem Jugendschutz, dem Datenschutz, dem Verbraucherschutz etc.

7

Übersicht 2: Akzeptanzproblem rechtlicher Bindungen

8Denn gerade im Internet stellen sich viele rechtliche Probleme – um nur ein paar Probleme beispielhaft zu nennen:11

•  Die nahezu spurenlose Veränderbarkeit von Inhalten steht in einem Konflikt zur Verlässlichkeit von Dokumenten und zur Beweissicherung.

•  Die Unterschiedslosigkeit von Original und Kopie führt zu urheberrechtlichen Problemen.

•  Die (relativ hohe) Anonymität im Netz erschwert eine zuverlässige Identifizierung etwa von Vertragspartnern.

•  Die Schnelligkeit der interaktiven Kommunikation kürzt natürliche Bedenkzeiten beispielsweise beim Abschluss von Verträgen erheblich ab, was eine besondere Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers zur Folge hat.

9Der im Internet weit verbreitete und populäre Ansatz der Selbstregulierung kann diese Problemstellungen nicht umfassend lösen (vgl. z. B. die Netiquette gem. RFC 1855). Sowohl die Legitimität als auch die Allgemeinverbindlichkeit sind bei demokratisch gesetztem Recht wesentlich höher. Den im Konfliktfall erforderlichen Kontroll- und Zwangsmechanismen kommen dann – wegen der Unterstützung durch das öffentliche Gewaltmonopol – eine entsprechend höhere Wirksamkeit zu. Auch Individual- und Minderheitenrechte sind dann besser geschützt; gerade im Internet darf es kein „Recht des Stärkeren“ geben.12 Deshalb kann es in einer geordneten Zivilisationskultur keine „weißen Flecken“ auf der rechtlichen Landkarte geben. Der Geltungsanspruch des Rechts erfasst auch das Internet, was mit der wachsenden Ausformung der Rechtsgrundlagen und der sich verdichtenden Rechtsprechung zunehmend deutlicher geworden ist.

10Inzwischen kann das Internetrecht als einigermaßen ausgeformt gelten. Die wichtigen Rechtsgrundlagen sind geschaffen, und die Novellierungsdichte hat in den letzten Jahren abgenommen. Soweit der Gesetzgeber noch Veränderungen vornimmt, betreffen diese – meist in verschärfender Weise – Einzelfragen (wie etwa die Button-Lösung beim elektronischen Vertragsschluss – s. u., Rn. 667). Zugleich sind inzwischen viele grundsätzliche Streitfragen zu allen Bereichen des Internetrechts durch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs – teilweise sogar des Bundesverfassungsgerichts oder des EuGH – höchstrichterlich geklärt. Auch wenn wegen der unverändert hohen Innovationskraft der Informations- und Kommunikationstechnik ständig neue Fragen auftreten, hat das Internetrecht schon seit einigen Jahren nicht mehr den fragmentarisch-tastenden Charakter wie zur Jahrtausendwende.

1.2.2Struktur des Internetrechts


11Das Internetrecht ist kein eigenes, in sich abgeschlossenes Rechtsgebiet. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat sich auch (noch) keine allgemein anerkannte Strukturierung des Internetrechts durchgesetzt. Ich unterscheide hier zwischen Querschnittsthemen und den einzelnen internetspezifischen Fachthemen. Während zu den Querschnittsthemen die online-spezifischen Regelungen für Telekommunikation und Telemedien sowie die Grundrechte zählen, umfassen die Fachthemen das Providing, die Internet-Inhalte (Contents) einschließlich Social Media und Links, Domains, eCommerce und eGovernment. Bei diesen Fachthemen kommen die verschiedenen „tradierten“ (also unabhängig vom Internet entstanden) Rechtsgebiete in...