Der Kommissar und der Mörder vom Cap de la Hague - Ein Kriminalroman aus der Normandie

von: Maria Dries

Aufbau Verlag, 2016

ISBN: 9783841210814 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Kommissar und der Mörder vom Cap de la Hague - Ein Kriminalroman aus der Normandie


 

Barfleur


Anette und Oscar

Erster Tag


Philippe Lagarde saß vor seinem Lieblingsbistro »Im Wind der Inseln« und genoss die frühe Wärme der Märzsonne. Der Hafen von Barfleur lag jenseits des Quai Henri Chardon. Die Flut drängte mit Vehemenz in das steinerne Becken. Boote wurden aus dem Schlick gehoben und begannen, auf den Wellen zu schaukeln. Barfleur galt als eines der schönsten Dörfer Frankreichs und war ein Touristenmagnet. Die Besucher aus aller Welt liebten den pittoresken Charme des Ortes, die trutzige Wehrkirche am Hafeneingang und die Muscheln mit den golden schimmernden Schalen. Muschelbänke zogen sich kilometerweit die östliche Küste der Halbinsel Cotentin entlang. In allen Restaurants, die sich um den Hafen reihten, wurden Muscheln angeboten. Die Lokale, Bistros und Cafés waren in hohen, dicht gedrängten, grauen Granitsteinhäusern untergebracht. Weiße Sprossenfenster, elegant geschmiedete Balkonbalustraden und rote Kamine setzten farbliche Akzente.

Der Kommissar im Ruhestand trank den zweiten Milchkaffee und war in die Lektüre der Tageszeitung Ouest France vertieft. Die beiden köstlichen Eclairs mit Karamellfüllung hatte er bereits verzehrt. Ein Schatten verdunkelte die aufgeschlagene Seite. Er blickte auf. Vor dem Bistrotisch standen eine junge Frau und ein kleiner Junge und musterten ihn mit ernsten Mienen.

Lagarde lächelte sie an.

»Na, ihr zwei, kann ich etwas für euch tun?«, fragte er.

»Bonjour, Monsieur«, sagte das Mädchen. Sie war sehr hübsch. Riesige graue Augen, eine zarte, wohlgeformte Nase, ein voller Mund in einem schmalen blassen Gesicht. Glatte, kupferrote, kinnlange Haare umrahmten ihr Antlitz. Sie trug eine grauschwarz melierte Wollhose, ein weißes kurzärmliges Männerunterhemd und breite schwarze Hosenträger aus Leder.

»Sind Sie Kommissar Lagarde?«, erkundigte sie sich.

»Ja, der bin ich.«

»Ich bin Anette Marsault«, stellte sie sich vor. Sie zeigte auf den Jungen. »Und das ist mein Bruder Oscar.«

Der kleine Junge sah ihr sehr ähnlich. Nur die Haare waren einen Ton heller. Zu der Jeans trug er ein blau-Weiß kariertes Hemd. In den Händen hielt er ein dickes rotes Sparschwein und ein Kinderbuch.

»Mein Bruder und ich möchten gerne mit Ihnen sprechen«, erklärte Anette. »Wir haben Nachforschungen angestellt. Sie sind einer der besten Polizisten im Cotentin.«

»Meine Freundin sagt, Sie sind der Beste«, erklärte Oscar mit wichtiger Stimme. »Der beste Kommissar von ganz Frankreich.«

»Wie heißt denn deine Freundin?«

»Amélie.«

Lagarde amüsierte sich. Amélie war die siebenjährige Tochter von Camille, einer guten Freundin, die Lehrerin am Gymnasium von Saint-Vaast-la-Hougue war. Lagarde passte manchmal auf Amélie auf, wenn ihre Mutter an langen Lehrerkonferenzen teilnehmen musste. Camille unterrichtete die Fächer Französisch und Deutsch.

»Woher kennst du Amélie?«, fragte er den kleinen Jungen.

»Aus der Schule, natürlich. Sie hat mir auch den Tipp gegeben, wo Sie häufig frühstücken.«

Lagarde nickte ernst. »Ihr wollt mich also sprechen. Dann setzt euch doch zu mir an den Tisch. Wichtige Dinge bespricht man nicht im Stehen. Was darf ich euch bestellen? Wie wäre es mit einem Eis? Ich lade euch ein.«

Oscars Augen leuchteten auf.

Seine Schwester knuffte ihn unsanft in die Seite. »Wir dürfen von fremden Menschen nichts annehmen, das hat uns Oma immer eingeschärft.«

Oscar blickte zu Boden und schwieg.

»Aber wir haben uns doch vorgestellt. Folglich kennen wir uns jetzt«, erklärte Lagarde.

Die beiden setzten sich, und Oscar stellte das Sparschwein in die Mitte des Tisches. Das Kinderbuch legte er daneben. Lagarde winkte nach Gaston und bestellte zwei große Eisbecher. Als der Wirt die Glasschalen mit den bunten Kugeln, Sahne, Waffeln, Schokoladensoße und Smarties serviert hatte, forderte Lagarde die Geschwister auf: »Lasst es euch schmecken und erzählt mir, was ich für euch tun kann.«

Anette ließ einen Löffel Eis im Mund zergehen, schluckte und ergriff das Wort. »Unsere Oma, Germaine Marsault, ist vor fünf Jahren verstorben. Sie ist nachts in ihrem Haus die Treppe hinuntergestürzt. Ihr Hausarzt und die Polizei gingen von einem Unfall aus. Aber es war Mord.« Die junge Frau verstummte für einen Moment und kämpfte mit den Tränen. Dann fuhr sie entschlossen fort. »Oscar und ich wissen, dass es Mord war. Wir haben den Mörder gesehen, als er aus dem Haus auf die Straße lief. In jener Nacht haben wir bei Oma übernachtet, weil unsere Eltern ins Kino wollten. Wir sind von einem Schrei aufgewacht und haben aus dem Fenster geschaut, weil wir zunächst dachten, er sei von draußen gekommen. Dann haben wir Oma gefunden.« Sie wischte sich Tränen aus den Augen. »Niemand hat uns geglaubt. Nicht einmal unsere Eltern. Alle dachten, wir hätten uns den Mann nur eingebildet, weil wir schlaftrunken und so erschrocken waren.«

Oscar knabberte an einer Waffel und nickte ernst. »Genauso war es.«

Anette lächelte ihn liebevoll an.

»Oscar war damals erst vier Jahre alt«, erklärte sie Lagarde.

»Aber ich war schon dreizehn und kein Kind mehr. Ich weiß, was ich gesehen habe. Als Oscar acht Jahre alt wurde, habe ich ihm erzählt, was passiert ist. Wir haben beschlossen, Omas Mörder zu finden. Vor einigen Tagen bin ich volljährig geworden.«

»Sie ist jetzt geschäftstüchtig«, ergänzte ihr Bruder.

»Geschäftsfähig heißt das«, erklärte sie ihm geduldig. An Lagarde gewandt, fuhr sie fort. »Ich möchte Sie engagieren, um den Mord an unserer Oma aufzuklären. Wir schaffen das nicht alleine. Alles wird korrekt ablaufen. Wir schließen einen Vertrag, und Sie bekommen ein angemessenes Honorar.«

Lagarde war verblüfft und wollte etwas sagen. Der kleine Junge kam ihm jedoch zuvor. Er zeigte auf das Schwein.

»Anette und ich haben gespart. Unser Taschengeld, Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke und die Einnahmen aus verschiedenen Jobs.« Er strahlte Lagarde voller Stolz an. Triumphierend verkündete er: »Im Sparschwein sind dreihundertzweiundsiebzig Euro und fünfundfünfzig Cents.«

»Donnerwetter. Da habt ihr aber viel Geld gespart«, antwortete der Kommissar, der nicht recht wusste, was er von der Geschichte halten sollte. Der damals vierjährige Oscar hatte an diese schreckliche Nacht sicherlich keine Erinnerungen mehr. Er wusste nur durch Erzählungen seiner Schwester davon. Anders war es bei Anette. Vielleicht hatte sie tatsächlich etwas gesehen. Und sie hatte fünf Jahre lang an ihrem Plan festgehalten, den Mörder ihrer Oma zu finden.

Anette sah den Kommissar zweifelnd an. »Die Summe reicht nicht, richtig? Wir könnten sie als Anzahlung betrachten. Den Rest stottern wir ab.«

Lagarde lächelte sie an. Die beiden waren wirklich bezaubernd.

»Dein Verhandlungsgeschick und deine Entschlossenheit beeindrucken mich, Anette. Hast du schon mal darüber nachgedacht, Anwältin zu werden?«

Das Mädchen erwiderte sein Lächeln. »Das habe ich mir auch schon überlegt.«

»Passt auf, ihr zwei. Lassen wir das Geld beiseite. Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, was in jener Nacht passiert ist. Kannst du dich an irgendetwas erinnern, Anette? Kannst du die Person beschreiben, die aus dem Haus lief?«

Das Mädchen griff nach dem Kinderbuch und schlug es auf. Ein Rabe stand auf einer Wiese. Das schwarze Gefieder war aufgeplustert, der Schnabel war lang und krumm. Auf dem Rücken hatte er einen hellen Fleck.

Anette zeigte auf den Vogel. »So sah der Mann aus.«

»Wie ein Rabe?«

»Ja. Ich habe Zeichnungen angefertigt, Skizzen gemacht, ich habe nach Personen gesucht, die dem Mörder ähneln. Aber dieser Rabe aus dem Kinderbuch kommt der Gestalt am nächsten.«

Sie schien sich vollkommen sicher zu sein.

»Der Mann war schwarz angezogen. Als er aus der Remise kam, habe ich ihn im Profil gesehen. Er hatte eine Hakennase, geformt wie ein Schnabel. Und lange, schwarze Haare. Als er sich abwandte, konnte ich auf dem Rücken einen hellen Kreis erkennen. Im Licht der Straßenlaterne leuchtete er silbern auf. Ich glaube, in dem Kreis waren Buchstaben, ein A und ein W oder ein V. Ich bin mir aber nicht ganz sicher. Er war so schnell verschwunden.«

Lagarde fand, dass die Beschreibung des Mädchens von der Person ziemlich präzise war. Niemand hätte in der Nacht im Licht einer Straßenlaterne mehr erkennen können. Die Kinder waren durch den Schrei ihrer Oma jäh aus dem Schlaf gerissen worden, und der Mann hatte es eilig gehabt.

»Eure Oma hat im ersten Stock geschlafen?«, fragte er.

Anette nickte. »Ja, genau. Dort befand sich ihr Schlafzimmer.«

»Und wo habt ihr geschlafen?«

»Im Erdgeschoss. Oma hatte für uns ein Kinderzimmer eingerichtet. Es war das erste Zimmer rechts neben dem Salon.«

»War an dem Abend irgendetwas Außergewöhnliches? Hat eure Oma erzählt, dass sich tagsüber etwas Merkwürdiges ereignet hat?«

»Nein«, antwortete Anette. »Der Abend war wie immer total schön. Oma hatte vom Wochenmarkt ein gegrilltes Hühnchen mitgebracht. Dazu gab es Bohnengemüse und einen Auberginenauflauf. Das ist unser Lieblingsgericht. Nach dem Essen haben wir Elfer raus gespielt. Anschließend hat Oma meinen Bruder ins Bett gebracht, und ich habe die Küche aufgeräumt. Als Belohnung durfte...