Die Brücke von Istanbul - Eine Reise zwischen Orient und Okzident

von: Geert Mak

Pantheon, 2009

ISBN: 9783641019518 , 128 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Die Brücke von Istanbul - Eine Reise zwischen Orient und Okzident


 

V STURM DER WINDMÜHLEN (S. 93-94)

Istanbul gehört zu einem klassischen Stadttypus, wie ihn Amsterdam um die Mitte des 19. Jahrhunderts repräsentierte: Die Armen hausen im alten Kern, die Mittelklasse wohnt um dieses Zentrum herum, wobei der Wohlstand mit der Entfernung zunimmt, und der Reichtum – davon gibt es nämlich auch hier jede Menge – residiert im Grünen, auf den Inseln oder in den Luxusvierteln am anderen Ufer des Bosporus. Damit entspricht die Stadt einem alten Muster. Schon seit der Frühzeit Konstantinopels waren die Höhenlagen für die Reichen reserviert. Von deren Häusern und Palästen flossen ständig Urin und Kot hangabwärts – die Stadt besaß keine Kanalisation –, bis sie im Meer verschwanden. Dem topographischen entsprach das soziale Gefälle: Je tiefer am Hang ein Haus stand, desto mehr Unrat sammelte sich dort an, und desto bescheidener war der Status seiner Bewohner. Wer am Fuß der Hügel wohnte, lebte also immer im Dreck der Reichen, damit musste er sich abfinden.

In solchen Vierteln sind die Unterkünfte des Sohlenmanns, des alten Lastträgers und des blinden Flötenspielers, auch die meisten Zigarettenjungen leben dort. An einem dieser alten Unratbäche, hinter den Straßen der Klempner, Pumpenmacher und Elektriker, wohnt der Buchhändler. Drei Betontreppen hoch, eine abgeschabte Tür, dahinter ein Arbeitszimmer, das mit Ware und kostbaren Erinnerungsstücken vollgestopft ist. Da sieht man alte Spielzeugautos, Kugelschreibersets, Fläschchen, Modelleisenbahnwagen, eine Handvoll CDs, einen hellblauen Plastikwohnwagen, einen Ka lender von 1994, eine Gedichtsammlung von Nâzým Hikmet, ein rotes Schutzblech von einem Kinderrad. Er lebt allein.

Vor zehn Jahren sind seine Frau und sein zehnjähriger Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Er hat noch eine Tochter, aber die studiert in einer anderen Stadt. Am meisten verdient er an Restposten, beschlagnahmter Ware, die er dem Staat abkauft. Zwölftausend von diesen Schutzblechen hat er in einem Lagerhaus deponiert. Er zeigt mir einen Gürtel aus durchsichtigem Plastik mit einem winzigen Bärchen daran: Davon hat er zwanzigtausend auf Lager. Alte Fotos laufen auch hervorragend. Ein Liebhaber sammelt jede Art von Fotos, auf denen ein Kind mit irgendeinem Spielzeug zu sehen ist. Sehr guter Kunde.

Der Buchhändler hat ein schmales Gesicht, einen kleinen Schnurrbart, lebendige Augen. »Ich rede nicht viel«, sagt er. »Ich konkurriere nicht mit den anderen. Wenn sie schließen, mache ich auf, immer von halb sechs bis neun. Ich führe keine gewöhnlichen Bücher, am liebsten verkaufe ich Fotobände und Lyrik. Ich habe meine Spezialkunden, die mich immer finden. Studenten, sogar ein Professor. Hier, dieses Buch über Holland zum Beispiel.« Er reicht mir ein fleckiges Reisebuch aus den achtziger Jahren. Ein Schränkchen mit drei Brettern enthält seine Bibliothek. Türkische Titel, aber auch Pablo Neruda, Alexander Puschkin, Majakowski, Knut Hamsun, er lässt die Namen genüsslich auf der Zunge zergehen. »Ich habe alles von ihnen gelernt – wie die Menschen sind, wie man sie zu nehmen hat.«