Die Godin - Roman

von: Robert Hültner

btb, 2015

ISBN: 9783641187255 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 6,99 EUR

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Die Godin - Roman


 

6


Seit dem Ende des Frühjahrs hatte es fast ohne Unterbrechung geregnet. Seit Wochen dämmerte die Stadt unter einem dichten Nebeltuch, und die Stadt, längst in stumpfgraue Farben getränkt, hatte zu stinken begonnen. Sie roch nach schimmelndem Mauerwerk, nach Rauchfeuer, Küchengerüchen, dem von Tritten und Wagenrädern zermahlenen Pferdekot und dem von fauligen Abfällen geschwängerten Dampf der Tage. Früh dunkelte es, und nur in den Nächten schien sich der schweißige Brodem der langsam verpilzenden Stadt in das Erdreich zurückzuziehen. Zwar hatte sich hin und wieder ein Morgen strahlend geöffnet; doch spätestens dann, als sich die Straßen mit schlafblindem, unfroh fröstelndem Volk füllten, Trambahnwaggons auf ächzenden Geleisen Tausende an ihre Arbeitsstellen beförderten und die Schutzgitter der Läden keckernd zur Seite geschoben wurden, hatte sich wieder eine regenschwangere, filzig undurchdringliche Wolkenmatte über die Gassen, Straßen und Plätze gesenkt. An manchen Tagen stand die Luft unbewegt; milder Faulgeruch wuchs aus den Pflasterritzen, das Unkraut wucherte. Vor Nässe geschwollen trieben Bäume und Sträucher aus.

Nach regelmäßigen Wolkenbrüchen, in deren Folge die Isar binnen weniger Stunden zum tobenden Wildfluß anschwoll und sich die donnernde, lehmige Flut an den steinernen Brückenpfeilern brach, war die Luft würzig und kühl. Befreiung kündigte sich an; die Wolkendecke hob sich und stellte in den kurz geöffneten hellen Feldern eine Idee der darüber liegenden Bläue aus, fing an ihren zerfetzten Rändern schwefeliges Licht und schien nach Norden zu treiben. Doch kaum waren die dunklen, bauchigen Gebilde zum Horizont gesegelt, hatte der Himmel sich wieder geschlossen.

Der Nieselregen tappte geräuschlos auf Dächer, Hüte, Blattwerk. In den Ausläufen der Regenrohre rauschte es gleichförmig, Abfall und abgefallene Blätter trieben in dünnen Rinnsalen in das Dunkel der Kanalisation. Die Fäule kroch hinter den Stuck der neubarocken Fassaden der Bürgerhäuser, salzige Mineralien sprengten den Verputz von den Hauswänden. Fleckiger Aussatz blühte an den Fundamenten, feuchtschwarzes Moos dehnte sich aus allen Fugen, weitete sich zu flächigen Flechten, zerfraß den Mörtel zu erdiger Konsistenz, bis er dem unablässig rieselndem Regen keinen Widerstand mehr bot. Die unbefestigten Gassen zwischen den ärmlichen Vorstadthütten in Haidhausen und der Au hatten sich längst in schlammige Bahnen gewandelt; erdiger Schmutz und Kot, der aus den überlaufenden Kanälen schwappte, schwemmte über die Dielen in die dämmerigen Wohnhöhlen der Tagelöhner.

Über Wochen hatte sich nichts mehr verändert. Kein Wind war aufgekommen, kein Sturm hatte geklärt. Es regnete. Die Stadt triefte. Alles an ihr rieselte, sickerte, gluckste, und der zementfarbene Himmel erdrückte sie, nahm ihr den Atem. Die Enge der Straßen wurde drängender, die Gemüter trübe. Man hetzte. Es wurde wenig gelacht.

Die Fenster des dichtbesetzten Schwabinger Kaffeehauses waren bedampft. Emil Teobalt starrte auf die blinden Scheiben und nahm die milchigen Umrisse der draußen vorbeieilenden Passanten wahr. Er wandte sich wieder seiner Kaffeetasse zu und rührte gedankenverloren darin.

»Nein«, schüttelte er den Kopf, »das wäre nicht nötig gewesen.«

Kajetan zuckte die Achseln und lehnte sich zurück.

»Geschehen ist geschehen.«

»Was ist schließlich dabei herausgekommen? Ich bin entlassen – und Sie auch. Dabei hab ich neulich noch gelesen, daß sie in Amerika schon einen Farbfilm ausprobieren.«

»Tatsach?«

»Ja. Da wird nichts mehr viragiert werden! Da ist das Bild dann, wie die Welt ist. Das Gras grün, die Haut weiß oder braun oder gelb, das Blut rot und …«

»… die Weiber im Schlafzimmer?«

Teobalt lachte. »Stimmt! Wie sind die eigentlich?«

»Kommt drauf an.« Kajetan schmunzelte und hob vielsagend seine dichten Augenbrauen. Teobalt wurde wieder ernst.

»Hätte ich doch bloß mein Maul gehalten«, sagte er müde.

»Hinterher ist man immer gescheiter.« Kajetan nahm einen Schluck aus seiner Tasse.

»Bei mir scheint ja Hopfen und Malz verloren. Aber Sie! Was geht es Sie eigentlich an, wenn ich mit einem über Kreuz bin?«

»Gebens schon eine Ruh.« Kajetan setzte die Tasse auf. »Ich habs halt getan und werd schon wissen, warum.«

»Jetzt reden Sie Blödsinn. Sie wissen es nicht, genauso wenig wie ich.«

Kajetan fingerte nach seinem Kinnbart.

»Stimmt«, gestand er zögernd ein.

Teobalt beugte sich vor. »Der Stolz ist mit Ihnen durchgegangen, nichts weiter. Daß jemand ein wenig arm ist im Hirn und dann noch sein Maul aufreißt, das könnens nicht ertragen. Und deswegen tappens immer wieder rein in die Soße, genau wie ich. Aber wir vergessen dabei, daß man sich das auch leisten können muß.«

Kajetan mußte es zugeben. »Aber wer kann raus aus seiner Haut?«

Teobalt schüttelte den Kopf. »Bei mir hab ich den Verdacht«, sagte er nachdenklich, »daß ich es gar nicht möcht.«

»Na sehens. Also Schluß mit der Trübsinnigkeit! Alles ist, wies ist. Und irgendeinen Zweck wirds schon gehabt haben.« Kajetan hatte die Stimme gehoben, als wollte er sich selbst von seiner Rede überzeugen.

Emil Teobalts Miene hellte sich auf.

»Aber das muß man Ihnen lassen«, gluckste er, »ein gutes Mundwerk haben Sie. Das tut mehr weh als manche Ohrfeige.«

Kajetan wehrte gespielt ab.

»Ich hab bloß gesagt, was wahr ist.«

»Aber den Ostler ein … wie haben Sie ihn genannt?«

»Ein blahts Schwundhirn, ein blahts!«

»… zu nennen, das ist …«

»Nichts als die Wahrheit.« Kajetan grinste.

»Schon. Aber wenns statt dessen freundlich gesagt hätten: Herr Kopiermeister, für mich sind Sie ein ausgesprochener Cerebral-Atropist, dann hätt er sich sogar noch was drauf eingebildet!«

Kajetan tat ernst. »Jetzt weiß ich endlich, wozu ihr Bourgeois Latein gelernt habts.«

Teobalt schmunzelte. »Und wozu? Sagen Sie’s mir?«

»Doch bloß dafür, damit man nicht gleich spannt, daß ihr genauso hinterfotzig sein könnts.«

»Allerdings!« Teobalt nickte sarkastisch. »Haben Sie eine Ahnung … Aber sagen Sie, was werden Sie jetzt tun?«

Kajetan hob die Schultern. »Mich nach einer neuen Stell umschauen, was sonst? Die zwiderne Würzen, bei der ich logier, hockt mir schon jetzt im Genick wegen der Miete. Und Sie?«

»Ich muß mir auch auf der Stelle eine neue Unterkunft suchen. Ich kann sie mir ja bereits jetzt nicht mehr leisten. Was Arbeit betrifft: Da werde ich dasselbe tun. Was sonst?«

»Eben.« Kajetan nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Dann beugte er sich neugierig vor. »Aber sagens – Sie sind doch eigentlich ein Studierter?«

»Eigentlich schon.«

»Und man hat sich erzählt, daß Sie bei der ›Münchner Zeitung ‹ gearbeitet haben. Wieso fangen Sie statt dessen als Hilfsarbeiter im Kopierwerk an? Und wieso könnens das nicht wieder tun?«

Teobalt zögerte mit seiner Antwort. »Das wär eine längere Geschicht.«

Kajetan nickte ihm aufmunternd zu. »Wir haben ja jetzt Zeit, oder nicht?«

»Na, meinetwegen. Es stimmt. Ich bin, wie Sie sagen, ein Studierter und hab nach meinem Studium bei der Zeitung angefangen. Erst in Berlin, danach in Augsburg, zuletzt in München. Es ist immer ordentlich aufwärts gegangen, und nebenbei hab ich einige Bücher publiziert. Aber nur solange, bis mein letztes Buch – Buch ist übertrieben, es war eher eine dünne Broschüre – erschienen ist.«

»Worum ist es darin gegangen?«

Teobalt tat unschuldig. »Oooch …«

Kajetan grinste zurück. »Weiß schon. Lateinisch verpackte Unverschämtheiten. Hab ich recht?«

Sein Gegenüber wurde ernst. »Nein. Es war eine Broschüre, die ich für die deutsche Sektion der Menschenrechts-Liga verfaßt habe.«

»Für wen?«

»Die kennen Sie nicht? Eine Schande – nein, nicht für Sie! Für die Liga! Haben Sie gar nichts mitbekommen von der Kampagne für Sacco und Vanzetti? Wirklich gar nichts?«

»Doch … ich erinnere mich. Waren das nicht … in Italien oder wo …?«

»Anarchisten?« Teobalt schien aufzuleben. »Nein. Es handelt sich um harmlose Gewerkschaftsmitglieder in den Vereinigten Staaten, die man zum Tode verurteilt hat. Sie haben wirklich nie davon gehört?«

Kajetan verneinte.

»Nicola Sacco und Giacomo Vanzetti sind …« Teobalt brach ab. »Lassen wir es. Ich erzähls Ihnen ein andermal. Zurück zu meiner Broschüre. Interessiert Sie es noch?«

»Erzählens schon!«

»In dieser Broschüre – es waren nicht einmal zwanzig Seiten und das magerste, was je von mir veröffentlicht worden ist –, da habe ich nichts getan als aufzulisten, wie die Justiz des Deutschen Reichs mit linken und rechten Putschisten, also mit den Räteleuten einerseits und den Kapp-Putschisten andererseits umgegangen ist.«

»Öha«, sagte Kajetan ahnungsvoll.

»Sehr richtig. Bei der Aufrechnung der gegen beide Parteien ausgesprochenen Zuchthausstrafen bin ich auf ein leichtes Unverhältnis von 373 zu 0 Jahren gekommen. Welche Zahl zu welcher Seite gehört, überlasse ich Ihrer Phantasie.«

»Dreihundert … zu Null? Aber ist nicht der Eisner-Mörder zu lebenslänglich …?«

Aus Teobalts Stimme tönte leichte Ungeduld, als er Kajetan unterbrach.

»Von Zuchthaus rede ich! Und nicht von einem kommoden Festungsaufenthalt in Landsberg, in dem man sich einen eigenen Koch leisten kann und einen Salon, nobler als zuvor. Nebenbei, weil Sie grad von Lebenslänglich reden –...