Das Opfer von Angel Court - Ein Thomas-Pitt-Roman

von: Anne Perry

Heyne, 2016

ISBN: 9783641162269 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Das Opfer von Angel Court - Ein Thomas-Pitt-Roman


 

KAPITEL 2

Es war Charlotte klar, dass sie mit Jemima gleich nach Hause zurückkehren musste und nicht auf Pitt warten konnte, doch sehnte sie sich geradezu danach, ihn nach seiner Meinung zu fragen. Vor allem hätte sie gern gewusst, welchen Eindruck er von Sophia gewonnen hatte. Sie glaubte ihn nach siebzehn Ehejahren gut zu kennen und sich selbst noch besser. Das meiste, worüber die Frau gesprochen hatte, noch mehr aber die glühende Überzeugung ihres Vortrags, hatte in Charlotte nur allzu viele unbehagliche Fragen wachgerufen. Warum hatte sie ihre eigenen Ansichten zu diesen Themen nie einer kritischen Würdigung unterzogen?

Hatte es damit zu tun, dass sie ohnehin alles hatte, woran ihr lag: den Gatten, den sie liebte, Kinder, genug Geld, um in einiger Sicherheit leben zu können, und Freunde? Außerdem gab es Anliegen, für die man sich einsetzen musste. Die Welt änderte sich von einem Monat zum anderen. Inzwischen war das Frauenwahlrecht mehr als ein bloßer Traum, und sie hatte sich im Kampf dafür stärker engagiert, als Pitt wusste.

Selbstverständlich würde sie ihm das sagen, aber erst, wenn die Zeit dafür reif war. Die Sache war äußerst reizvoll: wenn Frauen an politischen Entscheidungen mitwirken könnten, und sei es auch nur, dass sie die Möglichkeit hätten, der Regierung ihre Unterstützung zu versagen, wäre das gleichbedeutend mit dem Anbruch eines neuen Zeitalters, in dem Missstände aller Art, Leid und Ungleichheit beseitigt werden könnten.

Es gab zwingende Gründe, daran mitzuwirken, darunter eine unmittelbar bevorstehende Nachwahl für das Unterhaus, die der Cricketheld Dalton Teague schon so gut wie gewonnen hatte. Er sprach sich scharf dagegen aus, dass man Frauen über Möglichkeiten zur Geburtenkontrolle aufklärte.

Die Gemüter erhitzten sich über dieses seit Jahren heftig umstrittene Thema. Obwohl die Kenntnis der Methoden nicht gegen die Gesetze verstieß, erreichte das Wissen nicht diejenigen, die am dringendsten darauf angewiesen waren: arme Frauen, die bis zur physischen Erschöpfung Kind um Kind bekamen. Viele starben. Schuld daran waren Unwissenheit, Angst und gesellschaftlicher Druck. Auch die Religion trug ein gerütteltes Maß dazu bei.

Ausschließlich Frauen waren die Opfer, nie die Männer!

Die Dringlichkeit des Themas war Charlotte zu Bewusstsein gekommen, als kürzlich eine gute Bekannte bei der Geburt ihres siebten Kindes gestorben war. Mir geht es so gut, dachte sie, während sie in der Droschke neben ihrer Tochter saß. War sie so selbstzufrieden, dass sie nach nichts Höherem strebte, keinem Ziel, das jenseits der unmittelbaren persönlichen Zukunft lag? Woran musste sie glauben, wo sie doch alles hatte, was ihr wichtig war?

Und wenn sie es verlor? Welche innere Kraft hätte sie dann, die es ihr gestattete, fortzufahren, auf eigenen Füßen zu stehen, durch die Finsternis zu schreiten? Dieser entsetzliche Gedanke war ihr in der Vergangenheit mehrfach gekommen, wenn Pitt im Dienst, erst bei der Polizei und jetzt beim Staatsschutz, Gefahren drohten. Sie war so angespannt, dass sie bei jedem Schlagloch hochfuhr, durch das die Droschke rumpelte. Würde sie im Fall materieller oder seelischer Not nichts in sich finden, was ihr inneren Halt gab?

Jemima neben ihr schwieg. War sie ebenfalls verstört oder einfach nur müde? Sie hatte unbedingt mitkommen wollen, sagte aber nun kein Wort über das Gehörte.

»Wie fandest du die Frau?«, fragte Charlotte mit leiser Stimme. Sie überlegte, was sie dem Mädchen sagen sollte, wenn sich zeigte, dass Jemima mit der Situation überfordert war. Die Leere in ihr selbst weckte in ihr ein schlechtes Gewissen, weil sie keinen rechten Glauben besaß und daher nie versucht hatte, dem Mädchen einen solchen zu vermitteln. Ihre Tochter, die kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag stand, würde bald heiratsfähig sein. Dann würde sie Entscheidungen treffen müssen, die ihr ganzes weiteres Leben betrafen.

»Ich finde sie ein bisschen zum Fürchten«, sagte Jemima nachdenklich, als müsse sie nach dem richtigen Wort suchen. »Nicht so, als ob sie einem was tun würde, jedenfalls nicht mit Absicht. Aber sie ist sich so sicher mit dem, was sie denkt, dass sie auch das sagt, was gefährlich ist.« Während sie durch die Scheibe im Wagenschlag hinaussah, fiel das Licht der vorüberziehenden Straßenlaternen auf ihr Gesicht, sodass es abwechselnd erhellt wurde und im Schatten lag. »Sie ist ganz anders als unser Pfarrer«, fuhr sie fort. Die Anstrengung, die es sie kostete, genau das zu sagen, was sie meinte, ließ sie die Brauen zusammenziehen. »Wenn der was sagt, klingt das immer so, als ob er das gar nicht so meinte. Vielleicht liegt das an seiner eintönigen Stimme und daran, dass er sagt, was andere von ihm erwarten.« Sie wandte sich ihrer Mutter zu. »Meinst du, der würde gern sagen, was er selbst denkt, es aber lieber nicht tun, weil er die Leute nicht erschrecken und natürlich auch seine Stelle nicht verlieren will?«

»Das kann ich mir ohne Weiteres vorstellen«, erwiderte Charlotte und stellte sich dabei den hochwürdigen Mr. Jameson vor. Er war ein sanftmütiger, gütiger Hirte seiner Herde, aber auf keinen Fall ein kämpferischer Glaubensjünger. Er besaß genau das, was die Menschen von ihm erwarteten: ein Gefühl von Sicherheit, unendliche Geduld und die Fähigkeit, ihren Wunsch nach geistlicher Nahrung genau einzuschätzen. Aber war es auch das, was sie brauchten?

»Hat Sophia Delacruz recht?«, fragte Jemima geradeheraus. »Weiß tatsächlich keiner von uns, wer wir wirklich sind, und sitzen wir alle gemütlich in unserer Kirchenbank, bis wir zu Standbildern erstarrt sind?«

»Das hat sie nicht gesagt«, begehrte Charlotte auf. Dabei hatte sie selbst das Gleiche gedacht wie ihre Tochter.

»Hat sie doch.« Jemima war ihrer Sache sicher. »Natürlich nicht mit diesen Worten, aber es lief darauf hinaus. Wir richten den Blick nicht auf das Wesentliche, verändern nur ab und zu unsere Haltung ein bisschen, damit wir keinen Krampf im, na ja, du weißt schon, kriegen.«

»Du meinst ›Hinterteil‹, das Wort darf man ruhig sagen«, teilte ihr Charlotte mit einem Anflug von Sarkasmus mit, weil ihr die ganze Sache Unbehagen bereitete. »Man könnte glauben, dass es dir Freude bereitet, den Pfarrer und seine Gemeinde als Standbilder zu bezeichnen.«

»Überhaupt nicht«, protestierte das Mädchen mit einer Stimme, der die Empörung anzuhören war. »Aber wenn diese Frau ehrlich sagen kann, wer wir sind und was wir tun sollten, kann ich das auch!«

»Ehrlich müssen wir sein«, sagte Charlotte mit sanfter Stimme, »aber wir müssen auch das Rechte tun. Ganz davon abgesehen wäre es gut, wenn wir unsere Mitmenschen mit Güte behandelten.«

»Ist es Güte, wenn man sie belügt, weil sie sich dabei wohlfühlen?« Jemima sah ihre Mutter herausfordernd an. »Von dir habe ich so was noch nie gehört. Wenn Oma mir vorhält, dass ich anderen gegenüber zu freimütig bin, sagt sie, dass ich genauso bin wie du.« In ihrer Stimme schwang Befriedigung mit, ja, sogar eine Spur Stolz. Im Licht der nächsten Laterne sah Charlotte, dass Jemima lächelte. In ihrem Gesicht, das Weichheit mit Festigkeit vereinte, erkannte sie eine geradezu verblüffende Ähnlichkeit – so hatte sie in Jemimas Alter ausgesehen. Mit einem Mal überkam sie eine so starke Rührung, dass sie heftig zwinkern musste, um ihre Tränen zu verbergen.

»Ich habe nicht immer recht«, sagte sie, starr vor sich hin blickend. »Es gibt Möglichkeiten, andere wissen zu lassen, was man für die Wahrheit hält. Manches davon schadet den Menschen, manches mag ungeschickt formuliert, zu sanft oder zu schroff sein. Um uns zu ändern, brauchen wir Zeit – und Güte.«

»Ich weiß«, sagte Jemima. »Mit Honig fängt man mehr Fliegen als mit Essig. Das predigst du mir dauernd, ganz wie Oma. Aber haben wir die nötige Zeit dafür? Sophia Delacruz scheint das nicht zu glauben.« Sie ließ ihre Schultern ein wenig sinken und fuhr mit leiser Stimme in ernstem Ton fort: »Wann ist der richtige Augenblick gekommen, um Menschen Dinge zu sagen, die sie nicht hören wollen? Wenn man wartet, bis sie dazu bereit sind, ist es wahrscheinlich zu spät. Du sagst mir ja auch immer, was ich tun soll, und vor allem, was ich nicht tun soll.«

»Du bist ja auch meine Tochter«, hielt Charlotte rasch dagegen. »Ich liebe dich, und ich möchte weder, dass man dir ein Leid antut, noch, dass du einen schweren Fehler begehst oder …«

»Das weiß ich doch«, fiel ihr Jemima ins Wort und berührte sanft den Arm ihrer Mutter. »Ich weiß auch, warum du das tust. Aber manchmal ärgere ich mich darüber, weil ich das Gefühl habe, dass du mich für dumm oder leichtfertig hältst. Und … und ich glaube, ich hätte auch ein bisschen Angst, wenn du mir das nicht sagen würdest, und ich würde mich dann ziemlich einsam fühlen.« Mit einem kläglichen Lächeln schloss sie: »Und wenn du mich je an das erinnerst, was ich gerade gesagt habe, spreche ich nie wieder mit dir!«

Am liebsten hätte Charlotte sie fest in die Arme geschlossen, aber sie nahm an, dass Jemima dafür zu erwachsen war. Außerdem hatte sie wohl zu viel mit ihren eigenen Gefühlen zu tun, als dass sie die der Mutter auch noch hätte ertragen können. So begnügte Charlotte...