Man möchte immer weinen und lachen in einem - Revolutionstagebuch 1919

von: Victor Klemperer

Aufbau Verlag, 2015

ISBN: 9783841210388 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Man möchte immer weinen und lachen in einem - Revolutionstagebuch 1919


 

Politik und Bohème


(Von unserem A.B.-Mitarbeiter)

München, im Anfang Februar [1919]

Das Münchner Rätsel. – Die Urbayern Eisner, Mühsam und Levien. – Die politische Bohème. – Das Kommunisten-Gut mit zweierlei Liebe. – Die Wirkung aufs Ausland. – Eisners Zukunftsaussichten.

Es ist jetzt mit der Münchner Politik, wie es mit der Münchner Kunst war; man fragt sich: Wo stecken die Münchner oder die Bayern? In der Kunst stieß man auf ostpreußische, auf württembergische, auf alle möglichen Namen – und es war doch »Münchner« Kunst. Und jetzt in der Politik? Es ist wahrhaftig unnötig, dem Ministerpräsidenten Galiziertum unterzuschieben und an seinem deutschen Namen zu zweifeln. Er ist ja selber geständig, ein »Preiß« zu sein und nun gar ein Berliner. Und seine Hauptgegner auf der linken Seite, die in manchen Kreisen ebenso hohes Ansehen genießen wie Eisner, denn er besitzt Ansehen, auch heute noch, wo die Wahlen doch einigermaßen gegen ihn entschieden haben! –, auch seine radikalen Gegner sind nicht bayerischer als er. Erich Mühsam, der Edelanarchist, dessen Stern im Berliner Café des Westens aufging und in München lange sanften literarischen Glanz ausstrahlte (trotz aller edelanarchistischer Lichter), ehe er sich mit wirklicher blutiger politischer Röte erfüllte, Mühsam, der von Natur immer ein liebevolles, hilfreiches, unkriegerisches Geschöpf war und über dessen revolutionäres Heldentum man auch heute gern lächeln würde, wenn es nicht doch auch verwirrend und gefährdend wirkte, ist ja als Berliner W-Pflanze bekannt genug. D.h., er ist erst dorthin verpflanzt worden. Aufgewachsen ist er als Sohn eines Lübecker Apothekers in der damals noch so stillen Hansestadt.

Eine neuere Erscheinung ist der Doktor Levien – wie aus München gemeldet, ist Dr. Levien dieser Tage verhaftet worden, der hier im A.- und S.-Rat und auf der Spartakusseite die ernstlichste Rolle spielt und der Regierung, die natürlich keine Märtyrer schaffen möchte, mehr als unbequem ist. Um es vorwegzunehmen: der Doktor Levien ist kein russischer Jude, er hat Germanenblut in den Adern, er schüttelt mit mächtiger Gebärde blonde Locken, er blitzt aus blauen Augen, er zerrt mit der Linken am herznächsten Knopf der feldgrauen Uniform, wenn er, mit der hochgereckten oder vorgestoßenen Rechten agierend, sich gegen den Einwurf des Ausländerseins, des Nichtmitredendürfens verwahrt. So wenigstens sah und hörte ich ihn in einer Versammlung, wo er gegen den »reaktionären« Eisner donnerte. Aber freilich, wenn er dann die armen, verketzerten Bolschewisten in den richtigen, nämlich den rosig sanften, menschheitsbeglückenden Farben malte und nun plötzlich dem anderen Einwurf gegenüberstand, woher er denn die russischen Verhältnisse so genau kenne, da donnerte er mit gleicher Überzeugung und gleichem Gebärdenaufwand wie vorhin sein: »Ich habe als Deutscher im Felde gestanden!« diesmal: »Ich bin in Rußland geboren!« Mit dem Bayerntum dieses Volksführers stimmt es also auch nicht ganz. Nein, er ist als Sohn eines Deutschen in Rußland geboren, er hat russische Luft und bald russische Gefängnisluft eingeatmet. Er war blutjung in die russische Revolutionsbewegung geraten, er verband sich im Gefängnis eng mit einer russischen Revolutionärin, er kam später mit ihr nach Zürich; beide studierten und lebten ganz in der eigentümlichen Atmosphäre der russischen Schweiz – es hat immer eine russische, eine englische Schweiz gegeben mitten in den bekannteren deutschen, französischen und italienischen Teilen des Landes. Erst kurz vor dem Kriege fiel es dem Dr. Levien ein, daß er endlich, in letzter Minute, seiner deutschen Militärpflicht genügen müsse, wenn er nicht der deutschen Staatszugehörigkeit verlustig gehen wollte. Ein Freund schilderte ihm München verlockend, er trat bei den »Leibern« hier ein: da brach der Krieg aus. Ein Weilchen stand er wirklich im Felde, erhielt auch eine leichte Wunde; aber dann war er lange Zeit in der Ostetappe und in der Heimat tätig. Es heißt, man habe ihn hierher zurückgeholt, weil er im Osten zu gute Verbindungen zu den Bolschewisten hatte. Und nun ist er radikalster Münchner Volksführer.

Das Münchner Rätsel. Der Bayer ist so stolz auf sein Volkstum, so abweisend gegen alles Fremde, besonders gegen alles Nordische, das er gern unter dem Sammelnamen des »Preußischen« zusammenfaßt. Und nun regieren, jeder in seinem Kreise, die Herren Eisner, Mühsam und Levien! Man hat das Rätsel sehr einfach lösen wollen. Man hat von Eisner gesagt (und auf Levien trifft ja das gleiche verstärkt zu), er herrsche in München, weil er aufs heftigste Berlin befehde. Das spielt ja gewiß auch mit. Eisner hat, mehrfach wenigstens, sich stark auf den bayerischen Partikularismus gestützt; und wenn Levien gegen die Bluthunde Ebert und Scheidemann antobt, zu denen jetzt der Oberbluthund Noske getreten ist, so sind es eben Berliner Mörder und blutgierige Preußen. Aber dennoch: beide Männer sind ja ganz unbayerisch in ihrem Wesen und vor allem auch, was hier von großer Wichtigkeit, in ihrem Dialekt, daß das Antipreußentum allein die Möglichkeit ihrer Führerrollen keineswegs bilden kann.

Nein, es ist mit der Münchner Politik wie mit der Münchner Kunst: man braucht dazu weder geborener Bayer noch geborener Münchner zu sein. Und das ist mehr als ein Vergleich, das ist die gleiche Sache! Hier nämlich liegt die Lösung des Rätsels. In anderen Revolutionen, in anderen Zeiten, an anderen Orten tauchen die Führer von der Straße, aus Fabriken, aus Redaktions- und Rechtsanwalts-Schreibstuben auf. In München sind sie vielfach aus der Bohème gekommen. Man muß nur in Betracht ziehen – und hier liegt eine Aufgabe für den künftigen Kulturhistoriker und Romanschriftsteller –, daß sich der Begriff der Bohème, daß sich ihr Umkreis während des Krieges erweitert hat. Vor 1914 war man als Bohémien Dichter oder Maler oder Journalist oder Musiker. Auch heute ist man dies alles noch, sei es im Haupt-, sei es im Nebenfach. Aber man ist auch Politiker, man ist auch Nationalökonom geworden; einfacher und deutlicher ausgedrückt: man interessiert sich auch sehr für Schleichhandel und Schiebertum, man interessierte sich (meist negativ) für das Verhältnis des einzelnen zum Heer, man richtete sozusagen sein Augenmerk allgemein auch auf die früher als unästhetisch verpönten Dinge über dem Feuilletonstrich der Zeitung. Der Zusammenhang zwischen Bohème und Politik ist hier in München der denkbar engste. Ist nicht Eisner durchaus Bohémien, fühlt er sich nicht als Künstler und Dichter, wie er selber ja immer wieder betont? Von der Bohème aber verlangt das Münchner Volk nicht, daß sie bayrisch sei; vielleicht ist ihm ein richtiges Münchner Blut zu schade für diesen Kreis. Die Münchner Bohème ist eine Fremdenlegion, erhalten zur Belustigung, zur Gaudi des Münchener Bürgers. Und jetzt ist an die Stelle der künstlerischen Belustigung die politische Gaudi getreten 

Das klingt alles sehr komisch und sehr übertrieben. Wer darüber aber ernstlich nachdenkt, wird finden, daß es mit der Übertreibung nicht so viel auf sich hat, daß nur ein zentraler Punkt des hiesigen politischen Wesens einmal ganz für sich, von allem Nebenher entkleidet, nackt und somit, um im gastlichen Ästhetenstil zu sprechen, stilisiert herausgestellt ist. Und was die Komik anlangt, so ist sie sicherlich in überreichem Maß vorhanden. In einem dieser erweiterten Bohèmekreise, von denen der Weg in Eisners Sprechzimmer leicht zu finden ist, erzählte mir neulich ein netter, frischer, blonder Junge: »Wir sind Kommunisten, wir haben bei Augsburg ein Gut gekauft, um es zu bewirtschaften und den Beweis zu erbringen daß sich in neuer Gemeinschaft, friedlich ohne Geld, paradiesisch leben läßt.« Ich fragte, ob man dort eintreten dürfe, indem man einen Teil der Anlagekosten beisteuere, sich gewissermaßen einkaufe wie in ein Stift. Nein, mit Geld sei es nicht zu machen. »Ja, wie haben denn Sie das gemacht?« – »Wir haben’s gepumpt, selber besitzen wir gar nichts, wir sind seit langem gute Freunde, und wer einen Gönner hat, hilft den anderen mit.« – »Sind Landwirte unter Ihnen?« – »Eine Gärtnerin; die übrigen sind Studenten, Kaufleute und was der Bourgeois ›Entgleiste‹ nennt.« – »Also Frauen haben Sie auch in Ihrer Gemeinschaft?« – »Bisher zwei.« – »Wie verhält sich Ihr Kommunismus zur Frau?« – »Die legitime Ehe lehnen wir als bezahlte Prostitution ab. Im übrigen sind zwei Richtungen vorhanden und streiten noch miteinander. Die eine Richtung will freies paarweises Zusammenleben im Sinne der alten freien Ehe. Die andere Richtung will das Sexuelle ganz überwinden, es soll keine wesentliche Rolle mehr spielen.« – »Wie das?« – »Wir leben alle in freundschaftlicher unsexueller Gemeinschaft; erwacht in zweien die Bestie, so füttern sie die Bestie eben, und alles ist wie zuvor. Das ist belanglos, unwesentlich und eben Überwindung des Geschlechtlichen. So denken wir Fortgeschrittenen. Aber, wie gesagt, darüber herrscht noch Meinungsverschiedenheit.« – »Und wie stellen sich die beiden Damen Ihrer Gemeinschaft dazu?« – »Die Gärtnerin gehört der älteren Richtung an, die Studentin der neuen« 

Gewiß, das ist sehr komisch und ist nur ein Beispiel von vielen. Aber es liegt doch bitterster Ernst in diesem Ineinander von Bohème und Politik. Auch hierfür ein Beispiel. Ein italienischer Journalist, Berichterstatter einer großen Zeitung, ist von Innsbruck nach München gereist und geht hier frei herum, um über deutsche Stimmungen und Zustände zu berichten. Deutsch versteht er nicht, aber in diesen Bohèmekreisen versteht hier...