Janssenhaus - Kriminalroman

von: Sigrid Hunold-Reime

Gmeiner-Verlag, 2011

ISBN: 9783839236147 , 277 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Janssenhaus - Kriminalroman


 

Kapitel 1


Hannover, Juli 2009

Die Luft riecht sauber und kühl. Es ist still, Hannover schläft noch. Ein perfekter Sonntagmorgen zum Laufen.

Ich werfe meine Reisetasche auf den Rücksitz. Dabei spüre ich ihre Blicke im Rücken. Ich drehe mich nicht um.

»Morgen, Emma! Wo soll’s denn so früh hingehen?«

Die muntere Stimme unserer Nachbarin lässt mich zusammenfahren. Sie winkt mir mit der Hundeleine in der Hand zu. Peggy ist längst bei mir und begrüßt mich schwanzwedelnd. Ich streichle ihr flüchtig über den Nacken.

Wohin? Das weiß ich selbst nicht so genau, hätte ich am liebsten gesagt und antworte: »An die Nordsee.«

»Na, dann viel Spaß. Das Wetter passt ja. Vergiss nicht, dass wir Schützenausmarsch haben. Fahr bloß nicht durch die Stadt. Da ist heute kein Durchkommen.«

Ich nicke und setze mich auf den Fahrersitz.

»Wann kommst du denn zurück?«

Ich zucke nur mit den Schultern und starte den Motor. Zurück. Keine Ahnung. Erst einmal weg hier. Durchatmen. Nachdenken.

Ich fühle mich wie betäubt. Niemals habe ich ernsthaft daran geglaubt, und nun soll es die Wahrheit sein. Eine Wahrheit, die mir den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Alles hat mit einem Schlag seinen Wert verloren.

Ich fahre langsam unsere Straße entlang. Mit jedem Winkel verbinden mich hier Erinnerungen. 31 Jahre Erinnerungen. Jeder Baum, jedes Haus erscheint mir plötzlich wie eine Kostbarkeit. Ich unterdrücke das Kribbeln in meinen Augen und biege auf das Rudolf-von-Bennigsen-Ufer ab.

Der Maschsee ist glatt wie ein Spiegel und reflektiert ein zartes Orange der Morgensonne. Erste Jogger nutzen die Gunst der Stunde und laufen ihre Runde. Zu dieser Uhrzeit ist es hier am schönsten.

Ich halte noch einmal an und sauge das Bild in mir auf, als würde ich es nie wieder sehen. Am Nordufer sitzt ein verliebtes Pärchen auf der Bank. Im Hintergrund die grünlich schimmernde Kuppel des Rathauses. Hier und da ein paar übrig gebliebene Nachtschwärmer, die nicht den Weg nach Hause gefunden haben. Die allein geblieben sind. Blasmusik klingt dezent um die Häuserecken. Sie sammeln die Schützen zum großen Ausmarsch. Ich werde über den Schnellweg fahren.

Entschlossen programmiere ich mein Navi. Die Route ist berechnet. 272 Kilometer. Wenigstens meine Else scheint zu wissen, wo dieses Kaff an der Nordsee liegt. Ich habe noch nie etwas davon gehört. Bis gestern.

Bis gestern habe ich auch gedacht, dass ich die Tochter von Elisabeth und Gunther von Odenwald bin. Verdammt, warum haben sie es mir nie erzählt? Dann stünde ich jetzt nicht an einem Abgrund.

»Wir wollten es. Aber wir haben einfach den Zeitpunkt verpasst.«

»Zeitpunkt verpasst. Eine dümmere Ausrede fällt euch nicht ein, oder?«

»Das ist keine Ausrede. Wir haben versprechen müssen, es niemandem zu verraten. Daran haben wir uns gehalten und dann – dann warst du schon erwachsen.«

»Was heißt niemandem?«, habe ich getobt. »Bin ich niemand?«

Sie haben beide geweint. Das hat mich noch wütender gemacht. Wenn hier jemand Grund zum Weinen hatte, dann war ich das.

»Bitte, Emma. Lass die Vergangenheit ruhen. Wichtig ist doch nur, dass du unsere Tochter bist!«

Ich habe den zweiten Satz trotzig überhört und gefragt: »Wie stellt ihr euch das vor? Vergangenheit ruhen lassen! Ich kann jetzt nicht mehr so tun, als würde ich es nicht wissen. Wem habt ihr versprochen, den Mund zu halten?«

Ich habe gewütet und gewütet, bis Mama endlich gestanden hat: »Es war keine legale Adoption.«

Nicht legal. Was sollte das jetzt wieder? Sie hangelten sich von einer Lüge zur nächsten.

»Legal oder nicht. Ich bin also nicht eure Tochter!«

»Doch, das bist du!«, hat Papa verzweifelt widersprochen und wollte mich in den Arm nehmen. Ich habe gesehen, wie er gelitten hat, aber ich konnte seine Berührung nicht zulassen und habe ihn weggestoßen. Ich wollte nicht mehr reden. Ich wollte nur die Adresse.

Ein Dorf in der Nähe von Emden. In der sogenannten Krummhörn. Greta Schenk.

Ich stelle das Radio lauter und gebe Gas. Greta Schenk war früher einmal Putzfrau bei meinen Eltern. Putzfrau, das passt schon besser zu mir als ein Professor für Sozialwissenschaften und eine Philologin. Putzfrau bei meinen Eltern. Meine Eltern. Die Begriffe purzeln durcheinander und ich kann mich an keinem mehr festhalten.

»Warum hast du diesen Test überhaupt machen lassen?«, haben sie mich gefragt. Ich habe nicht geantwortet. Sie waren nicht in der Position, mir Vorwürfe zu machen.

Warum habe ich das gemacht? Eine blöde Schnapsidee aus Frust. Und im Grunde hat es Sandra gemacht.

Vor zwei Wochen hat Hannes mit mir Schluss gemacht. Wieder einmal eine Trennung. Wieder einmal vor dem Nichts. Wieder einmal allein auf Tour. Die gleichen dämlichen Dialoge: Was machst du so beruflich? Und wofür interessierst du dich? Welche Musik magst du? Verreist du gerne? Wie mich das ankotzt.

Ich habe eine Kiste Bier gekauft und bin zu Sandra gefahren.

»Was stimmt mit mir eigentlich nicht, dass ich jede Beziehung versiebe?«, habe ich sie gefragt. »Ich habe es mit keinem Kerl über die Zwei-Jahres-Grenze gebracht.«

»Zu deinem Trost: Ich auch nicht«, hat Sandra erwidert.

»Ja du, aber du willst ja auch keinen.«

»Wie schön, dass du mich so gut kennst«, war ihre trockene Antwort.

»Sorry, aber du bist doch aus Überzeugung Single, oder? Deine Eltern haben dir ja nicht gerade das traute Heim vorgelebt. Aber meine, die sind glücklich verheiratet.«

»Stimmt«, hat Sandra zugegeben. »Deine Eltern gehören zu den wenigen, denen ich das wirklich abnehme. Die beiden sind klasse.«

»Ja, das sind sie. Manchmal denke ich, dass ich ihnen ins Nest gelegt worden bin.«

»Das denkt jeder mal«, hat Sandra ungerührt gekontert und für uns die nächsten Flaschen geöffnet.

»Bei mir ist das anders«, habe ich eigensinnig beharrt. Weil mich die Gedanken davon ablenkten, dass Hannes mich als gefühlskalte Person hingestellt hatte, nur um über seine eigene Beziehungsunfähigkeit hinwegzutäuschen. Gefühlskalt. Nur weil ich nicht in sein Bild gepasst habe.

Es ist immer das Gleiche: Du bist Köchin? Wie bezaubernd! Meine kleine Küchenfee! Sie kriegen sich vor Begeisterung gar nicht wieder ein. Langsam begreifen sie dann, dass der Beruf nichts mit den Kochsendungen im Fernsehen zu tun hat. Ich arbeite im Schichtdienst, und zart besaitet bin ich auch nicht. Sie erschrecken sich, wenn ich über einen deftigen Witz lache und lieber in ein 96er-Heimspiel gehe als in die Oper. Sie fühlen sich betrogen. Dabei habe ich keinem etwas vorgemacht. Ich trage nicht favorisiert rosa, habe keinen Glitzerreif im Haar und bin meistens ungeschminkt. Ich liebe Jeans und habe von Anfang an erzählt, dass ich in einer Fußballmannschaft trainiere. Sie hören einfach nicht hin. Sie sehen nur: Klein – zierlich – blond – süß und kann kochen.

»Meine Eltern sind richtig kultiviert«, habe ich mich weiter auf den Selbstmitleidskurs manövriert. »Ich liebe Comedy bis zum Abwinken. Wenn ich meinen Eltern beim Frühstück mal einen Gag erzähle, lachen sie nur aus Höflichkeit. Sie kennen keinen einzigen Namen aus der Szene.«

»Das ist der Punkt«, hat mich Sandra streng unterbrochen. »Du hättest schon lange ausziehen sollen.«

»Warum? Ich habe dort eine separate Wohnung. Und wir halten unsere Grenzen ein.«

Sandra hat resigniert abgewinkt und die Flasche an den Mund gesetzt.

»Meine Eltern würden nie, so wie wir hier, den Alkohol trinken.«

»Wie trinken wir den denn?«

»Na, in der Küche, völlig stillos und aus der Flasche.«

»Ich kann Teelichter anzünden.«

»Das meine ich nicht. Meine Eltern trinken höchstens mal ein Glas Wein. Oder vorm Kamin einen Single Malt Whisky. Den behalten sie minutenlang im Mund und sinnieren hinterher über den Geschmack und schwärmen vom schottischen Hochland. Ich bekomme das Zeug, wenn überhaupt, nur mit Cola oder auf Eis runter. Das tut ihnen richtig weh, aber sie sagen nichts.«

»Das ist völlig normal«, hat Sandra mich weiter abgewiegelt und noch einmal die Flaschen gegen volle ausgewechselt. »Meine Mutter kocht jeden an die Wand und ich würde ohne Bringdienst und Fast Food verhungern.«

»Aber du hast beruflich Karriere gemacht. Da bist du ganz die Tochter deines Vaters. Du hast sogar in den USA studiert.«

»Die Tochter meines Vaters! Den Spruch kannst du dir sparen. Den hat meine Mutter schon zu oft benutzt«, hat Sandra gefaucht und ich hätte aufhören sollen. Ihr Vater war tot und ihr wunder Punkt. Aber ich konnte nicht.

»Ich meine einfach das ganze Lebensgefühl«, habe ich weiter lamentiert. »Ich bin überhaupt nicht ehrgeizig, dabei sind meine Eltern beide erfolgreich. Ich habe mit Müh und Not mein Abi geschafft und bin Köchin geworden. Noch nicht mal mit Berufserfahrung in der Schweiz oder in Frankreich. Zugegeben, trotzdem keine schlechte. Aber völlig aus der Art geschlagen. Ich bin strohblond und klein, meine Eltern sind beide dunkelhaarig und groß gewachsen. Wer weiß, vielleicht bin ich verwechselt worden. Immerhin bin ich nicht in Hannover geboren.«

Ich hatte angefangen zu heulen. Das lag aber mehr an...