Inselbeichte - Der dritte Fall für Kommissar Jung

von: Reinhard Pelte

Gmeiner-Verlag, 2011

ISBN: 9783839236123 , 278 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Inselbeichte - Der dritte Fall für Kommissar Jung


 

Jung


Zurück in seinem Büro schloss Jung die Tür und setzte sich an seinen Schreibtisch. In den Augen seiner Frau Svenja war sein Schreibtisch schäbig. Sie hatte ihn des Öfteren gefragt, wie er es aushielte, so zu arbeiten. Neben einem Aktenschrank, einem Aktenbock, seinem Bürosessel mit verstellbarer Sitz- und Rückenlehne und einem Besucherstuhl war der Schreibtisch das einzige Möbelstück in Jungs Büro. Die spärliche und abgenutzte Möblierung ließ den Arbeitsraum leer und karg erscheinen. Es hätte nicht gepasst, Bilderschmuck oder andere dekorative Elemente darin unterzubringen. Früher hatte Jung sich über die armselige Ausstattung aufgeregt, heute schätze er es, sich ohne Ablenkung auf seine Arbeit konzentrieren zu können.

Die Akte auf seinem Schreibtisch war dick, jedenfalls gemessen an den Akten, die unaufgeklärte Kapitalverbrechen üblicherweise nach sich ziehen. Er las sie in einem Zug durch, und als er danach auf seine Uhr schaute, war mehr Zeit verstrichen, als sein Gefühl ihm weismachen wollte. Der Ordner enthielt die Ermittlungsergebnisse im Fall eines spurlos verschwundenen 11-jährigen Mädchens aus Nordfriesland. Der Fall lag 15 Jahre zurück. Jetzt standen sie kurz vor dem Jahreswechsel 2006/2007.

Das Mädchen war mittags mit dem Fahrrad vom elterlichen Hof ins nahe Husum zu ihrem Klavierlehrer gefahren und dort nicht angekommen. Sie und ihr Fahrrad wurden niemals gefunden. Ungewöhnlich war die Tatsache, dass Jungs Kollegen niemanden hatten ausfindig machen können, der das Mädchen nach dem Verlassen des elterlichen Hofes noch einmal gesehen hatte. Ihr älterer Bruder war der Letzte gewesen, der beobachtet hatte, wie sie auf ihrem Fahrrad die Auffahrt hinunter auf die Straße rollte. Danach schien sie wie vom Erdboden verschluckt zu sein, so, als hätte es sie nie gegeben.

Ihr üblicher Weg in die Stadt wurde in einer Suchaktion, deren Aufwendigkeit und Akribie Jung selten vorher so erlebt hatte und die ihm große Bewunderung abnötigte, auf alle nur erdenklichen Spuren, auch auf die nebensächlichsten Kleinigkeiten abgesucht. Dabei stellte sich heraus, dass der überwiegend landwirtschaftlich genutzte Raum, der Fremden weit und leer erscheinen musste, durchaus belebt war. Der Kontrolle der Anrainer entging so gut wie nichts. Ihre Aufmerksamkeit spürte selbst weggeworfene Zigarettenkippen in den Entwässerungsgräben auf. Sogar ausgespuckte Kaugummis registrierten sie naserümpfend.

Jung fragte sich, warum sein Chef ihn erst nach so langer Zeit, aber noch vor seiner Einberufung zur Marine, auf diesen Fall angesetzt hatte. Die Vermutung lag nahe, dass er mit Jungs Arbeit an der Aufklärung eines Giftmordes auf Sylt unzufrieden war. Er hielt mit den Gründen für seinen Missmut aber hinter dem Berg und wollte Jung nun auf diesem Weg spüren lassen, wie ungehalten er war. Denn für Holtgreve war die Arbeit an einem so weit zurückliegenden und äußerst kompliziert erscheinenden Fall eine Art Strafe. Er bot keinerlei Aussicht, erfolgreich abgeschlossen zu werden und sich Respekt zu verschaffen, ganz zu schweigen von öffentlicher Anerkennung.

Aber für Jung war es ein Glücksfall. Er schätzte stille, langsame und subtile Fälle, die aus dem Brennpunkt der Aufmerksamkeit gefallen waren. Gerade die unaufgeklärten Fälle berührten, seiner Meinung nach, die tiefsten Abgründe menschlichen Daseins. Jedes Geschehen auf dieser Erde hatte seine Gründe und Folgen, es gab keine Zufälle, sondern nur Botschaften, davon war er zutiefst überzeugt. Und er wusste, dass Gründe, Folgen und Botschaften, wenn sie unerkannt blieben oder bleiben sollten, unterhalb der zivilisatorischen Politur lagen. Sie waren schwer zu finden und auch schwer zu verstehen. Ein guter Ermittler musste Distanz wahren und die Signaturen des Untergrundes auf der polierten Oberfläche lesen lernen. Und je tiefer die Gründe lagen, desto versteckter waren die Zeichen. Hier lagen die unaufgeklärten Fälle. Das war etwas für ihn. Ihm lag das einfach. Er glaubte zu wissen, wo auch die flüchtigsten Kräuselungen aufzuspüren waren, und traute sich zu, sie zu deuten. Sein Gespür für kleinste Nuancen und falsche Töne hatte ihm seine Frau schon das ein oder andere Mal vorgeworfen, wenn ihr die Gelegenheit dafür einen Grund zu liefern schien. Er sei nicht nur misstrauisch, sondern auch kleinkariert und besserwisserisch. Sie glaubte sogar, zwanghafte Züge an ihm entdeckt zu haben. Er aber vertraute seinen Fähigkeiten und glaubte genau erkennen zu können, wo forcierte Freundlichkeit schlechte Absichten verbarg, hinter sympathischer Aufmerksamkeit List und Tücke lauerten, wo ein eiskaltes Herz heiße Tränen vergoss und hinter kalter Teilnahmslosigkeit glühende Liebe loderte. Er witterte die tiefe Traurigkeit hinter einem lockeren Lachen, die verzweifelte Einsamkeit in umtriebiger Geselligkeit, die herzlose Grausamkeit hinter schwelgerischer Gefühlsseligkeit und die unsägliche Angst in der Heldenpose. Er spürte fast körperlich, wo hinter einer zur Schau gestellten Hilfsbedürftigkeit Hass, Wut und Neid lauerten. Er sah die Menschen, wie sie um ihr Auskommen kämpften, wie sie ihren Hunger und Durst stillten, er sah ihr Verlangen nach Sex, ihre Gier nach Geld und ihre verzehrende Suche nach Liebe. Und er kannte den Hexentanz, wenn unter übermenschlichem Druck oder im Rausch von Alkohol, Drogen und überbordender Laune oder im Zustand manischen Verliebtseins alles durcheinander purzelte. Es kam ihm dann so vor, als entpuppte sich die unerträgliche Leichtigkeit des Seins als der unerträgliche Schmerz zutiefst verletzter Seelen. Er dachte oft und lange darüber nach. Auch darüber, wo er sich selbst in diesem Panoptikum aus Instinkten, Gefühlen, Trieben, Leidenschaften und Bedürfnissen einzuordnen hatte. Und dann öffnete sich in ihm die vage Ahnung von einer fernen, kosmischen Kraft, die zwar hintergründig aber nie hinterlistig oder fies, und deren geheimnisvolles Wirken so unfassbar gewaltig, so richtig und gerecht war, dass ihm schwindelig wurde. Ja, dachte er, wenn seine Gedanken ihn nachts am Schlaf hinderten, ja und nochmals ja, so ist es, und so muss es einer gewollt haben. Und dann trieb es ihn plötzlich auf die Toilette, und hinterher fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

*

Damals waren die Medien voll von dem Fall des verschwundenen Mädchens gewesen. Als die Polizei keine schnellen Aufklärungsergebnisse liefern konnte, schlugen die Wellen der öffentlichen Empörung hoch. Die Angst vor einer Wiederholung und das Grauen vor der gespenstischen Unerklärlichkeit der Tat regte die Menschen auf. Ihre Reaktionen verloren jedes Maß und alle Vernunft. Aber Menschen, vor allem, wenn sie nicht unmittelbar betroffen sind, halten einen derartigen Erregungszustand nicht lange durch. Und so war der Fall relativ schnell aus den Schlagzeilen verschwunden. Die ermittelnden Beamten konnten kein frisches Futter für eine Dauererregung nachliefern.

*

Jung atmete aus. Die Luft im Raum war stickig. Weihnachten war nicht mehr fern, und die Heizung lief schon längst auf vollen Touren. Er drehte den Thermostat herunter und öffnete das Fenster. Alles war trüb und grau. Die Temperatur musste bis nahe an den Gefrierpunkt gesunken sein. Die Nässe schlug sich zwar noch nicht als fester Belag nieder, aber es war so unangenehm feucht und kalt, dass es einer Bestrafung gleichkam, sich draußen an der frischen Luft aufhalten zu müssen. Jung blickte auf die schräg gegenüberliegende, schemenhaft auszumachende Hafenspitze. Das Wasser lag wie ein Bleiklotz in der Förde, obwohl ein steifer Wind ging und tiefe, dunkle Wolkenfetzen unter einem düsteren Himmel vorbeihasteten.

Jung schüttelte sich und schloss das Fenster. Er überlegte, wie er den Fall am besten angehen sollte. Er schätzte es, sich mit einem Kollegen seines Vertrauens darüber zu besprechen, vor allem zu Beginn, bevor er loslegte. In der Vergangenheit hatte ihm sein pensionierter Kollege Boll dafür zur Verfügung gestanden. Das letzte Mal hatte er Jung sogar dazu animiert, höhere Mächte für das afrikanische Abenteuer einzuspannen, was ursprünglich gar nicht in Jungs Absicht gelegen hatte. Denn er war zu diesem Zeitpunkt schon auf den vorliegenden Fall angesetzt gewesen. Sein Chef beugte sich aber den Anweisungen von oben, vergaß das spurlos verschwundene Mädchen und ließ Jung in die Fremde ziehen. Holtgreve wusste damals nicht, wohin es Jung trieb. Falls doch, hätte er trotz allem keine Einwände bei seinen Vorgesetzten vorgebracht. In seinen Augen machte man das einfach nicht, streng genommen, verbot es sich sogar.

Jung beschloss, Boll anzurufen und um ein Gespräch zu bitten. Er hatte ohnehin vor, ihn zu treffen. Schließlich war Boll der Auslöser für seinen Aufenthalt am Horn von Afrika gewesen, und er würde sicherlich interessiert sein, zu hören, welchen Ausgang Jungs afrikanische Spiele genommen hatten. Er nahm den Hörer auf und wählte.

»Boll.«

»Hallo, Klaus. Tomas hier. Wie geht’s dir?«

»Hallo, Tomi. Du lebst? Ich machte mir schon Vorwürfe und dachte, du wärst bei der Marine abgesoffen«, erwiderte Boll launig.

»So schnell geht das nicht, auch wenn ich kurz davor war.«

»Was, du bist in Seenot geraten? Das glaub ich einfach nicht.« Boll lachte.

»Nicht mit dem Schiff, aber im Pool, als ich die Rettungsweste ausprobierte.«

»Das muss ja eine tolle Schwimmweste gewesen sein. Normalerweise sind sie dafür da, oben zu bleiben.« Bolls Tonfall ärgerte Jung.

»Dazu will ich weiter nichts sagen, sonst werde ich wieder sauer. Aber deswegen rufe ich dich nicht an.«

»Okay, vergessen wir das. Was gibt’s denn?« Boll hatte gemerkt, dass es Jung ernst...