Kein Ort ohne dich - Roman

von: Nicholas Sparks

Heyne, 2015

ISBN: 9783641163167 , 560 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Kein Ort ohne dich - Roman


 

KAPITEL 1

Anfang Februar 2011

Ira

Manchmal glaube ich, ich bin der Letzte meiner Art.

Mein Name ist Ira Levinson. Ich bin Südstaatler und Jude und auf beides gleichermaßen stolz. Außerdem bin ich ein alter Mann. Geboren wurde ich 1920, dem Jahr, in dem Alkohol gesetzlich verboten wurde und Frauen das Wahlrecht erhielten, und ich habe mich oft gefragt, ob mein Geburtsjahr der Grund dafür war, warum sich mein Leben so entwickelte, wie es sich entwickelt hat. Ein Trinker war ich schließlich nie, und die Frau, die ich geheiratet habe, stand Schlange, um ihre Stimme für Roosevelt abzugeben, sobald sie das erforderliche Alter erreicht hatte. Deshalb könnte man sich leicht vorstellen, dass mein Geburtsjahr das Ganze irgendwie verfügt hatte.

Mein Vater hätte sich über diesen Gedanken lustig gemacht. Er war ein Mann, der an feste Regeln glaubte.

»Ira«, sagte er immer zu mir, als ich noch jung war und bei ihm im Geschäft, einem Herrenausstatter, arbeitete, »ich sage dir mal, was du niemals tun solltest.« Und dann zählte er auf. Seine Lebensregeln nannte er das, und ich wurde mit diesen Regeln zu mehr oder weniger jedem Thema groß. Manche davon waren religiöser Natur und wurzelten in der Lehre des Talmuds; und wahrscheinlich war es das, was die meisten Eltern ihren Kindern beibringen. Zum Beispiel hieß es, ich solle niemals lügen oder betrügen oder stehlen. Doch mein Vater – ein Gelegenheitsjude, wie er sich damals nannte – konzentrierte sich im Zweifelsfall eher auf das Praktische. Geh niemals bei Regen ohne Hut aus dem Haus, schärfte er mir ein. Fass niemals eine Herdplatte an, denn sie könnte noch heiß sein. Ich wurde davor gewarnt, mein Geld in der Öffentlichkeit zu zählen oder Schmuck von einem Straßenhändler zu kaufen, egal, wie gut sich das Geschäft anhören mochte. Und so ging es endlos weiter, niemals dies und niemals das, aber trotz ihrer Willkürlichkeit befolgte ich letzten Endes fast jede dieser Regeln, vielleicht, weil ich meinen Vater nicht enttäuschen wollte. Seine Stimme folgt mir bis heute überallhin auf dieser längsten aller Reisen, dem Leben.

Ähnlich häufig wurde mir gesagt, was ich auf jeden Fall tun sollte. Er erwartete Ehrlichkeit und Integrität in allen Lebensbereichen, aber darüber hinaus brachte er mir bei, Frauen und Kindern die Tür aufzuhalten, Hände mit festem Griff zu schütteln, Namen nicht zu vergessen und dem Kunden immer etwas mehr zu geben, als er erwartete. Seine Regeln, das begriff ich nach und nach, bildeten nicht nur die Grundlage einer Philosophie, die ihm gute Dienste geleistet hatte, sondern sagten auch sehr viel über ihn selbst aus. Da mein Vater an Ehrlichkeit und Integrität glaubte, ging er davon aus, dass andere das auch taten. Er glaubte an Anstand und nahm an, dass andere es genauso hielten. Er glaubte, dass die meisten Menschen, wenn sie die Wahl hätten, das Richtige tun würden, selbst wenn es schwer wäre, und er glaubte, dass das Gute immer über das Böse siegen würde. Allerdings war er nicht naiv. »Vertrau den Menschen«, sagte er zu mir, »bis sie dir Anlass geben, es nicht zu tun. Und dann kehre ihnen nie wieder den Rücken zu.«

Mehr als jeder andere formte mein Vater mich zu dem Mann, der ich heute bin.

Doch der Krieg veränderte ihn. Besser gesagt, der Holocaust veränderte ihn. Nicht seine Intelligenz – mein Vater konnte das Kreuzworträtsel in der New York Times in weniger als zehn Minuten lösen –, aber seine Ansichten über Menschen. Die Welt, die er zu kennen glaubte, war für ihn plötzlich nicht mehr nachvollziehbar. Damals war er bereits Ende fünfzig, und nachdem er mich zum Teilhaber gemacht hatte, hielt er sich nur noch selten im Laden auf. Stattdessen wurde er zum Vollzeitjuden. Er begann, regelmäßig mit meiner Mutter – zu ihr komme ich später – in die Synagoge zu gehen, und bot diversen jüdischen Organisationen finanzielle Unterstützung an. Am Sabbat arbeitete er nicht mehr. Er verfolgte aufmerksam die Nachrichten über die Gründung Israels und in der Folge den Palästinakrieg und fuhr von da an mindestens einmal pro Jahr nach Jerusalem, als suchte er etwas, von dem er vorher nicht gewusst hatte, dass er es vermisste. Als er älter wurde, machte ich mir Sorgen wegen dieser weiten Reisen, doch er versicherte mir, er könne auf sich aufpassen, und viele Jahre war das auch so. Trotz seines fortschreitenden Alters blieb er geistig wach wie eh und je, nur leider war sein Körper nicht ganz so diensteifrig. Mit neunzig erlitt er einen Herzinfarkt, und obwohl er sich davon wieder erholte, schwächte ein Schlaganfall sieben Monate später seine rechte Körperseite stark. Selbst dann noch beharrte er darauf, sich selbst versorgen zu können. Er weigerte sich strikt, in ein Pflegeheim zu ziehen, obwohl er mittlerweile einen Rollator benötigte, und trotz meiner Bitte, seinen Führerschein abzugeben, fuhr er weiterhin Auto. Das sei gefährlich, sagte ich ihm, woraufhin er nur die Achseln zuckte.

Was bleibt mir anderes übrig?, war seine übliche Antwort. Wie soll ich sonst einkaufen gehen?

Mein Vater starb schließlich einen Monat vor seinem einhundertersten Geburtstag, den Führerschein immer noch in der Brieftasche und ein ausgefülltes Kreuzworträtsel auf dem Nachttisch neben sich. Er hatte ein langes Leben, ein interessantes Leben, und in letzter Zeit muss ich oft an ihn denken. Was nicht ganz überraschend ist, nehme ich an, denn ich bin in seine Fußstapfen getreten. Seine Lebensregeln hatte ich immer im Kopf, wenn ich morgens das Geschäft aufschloss und wenn ich mit Leuten zu tun hatte. Ich vergaß keine Namen und gab mehr, als erwartet wurde, und bis heute nehme ich einen Hut mit, wenn ich glaube, es könnte möglicherweise regnen. Wie mein Vater hatte ich einen Herzinfarkt und benutze jetzt einen Rollator, und Kreuzworträtsel mochte ich zwar nie, aber mein Verstand ist so wach wie eh und je. Und wie mein Vater bin ich zu störrisch, meinen Führerschein abzugeben.

Rückblickend war das wahrscheinlich ein Fehler. Hätte ich es getan, würde ich jetzt nicht in diesem Schlamassel stecken: mit dem Auto vom Highway abgekommen und halb die steile Böschung hinuntergestürzt, die Motorhaube vom Aufprall gegen einen Baum zerknautscht. Und ich müsste nicht davon träumen, dass jemand mit einer Thermoskanne Kaffee und einer Decke und einer dieser Sänften vorbeikäme, mit denen damals die Pharaonen von einem Ort zum anderen getragen wurden. Denn soweit ich es beurteilen kann, wäre das ungefähr die einzige Möglichkeit für mich, hier jemals lebend herauszukommen.

Ich sitze in der Tinte. Draußen vor der gesprungenen Windschutzscheibe fällt weiterhin Schnee, der mir die Sicht und die Orientierung nimmt. Mein Kopf blutet, und der Schwindel kommt in Wellen. Ich bin mir fast sicher, dass mein rechter Arm gebrochen ist. Das Schlüsselbein auch. Die Schulter pocht, und die geringste Regung ist eine Qual. Trotz meiner Jacke zittere ich schon vor Kälte.

Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich hätte keine Angst. Ich will nicht sterben, und dank meiner Eltern – meine Mutter wurde sechsundneunzig – ging ich lange davon aus, ich sei genetisch imstande, noch älter zu werden, als ich bereits bin. Bis vor wenigen Monaten glaubte ich fest daran, noch ein halbes Dutzend guter Jahre vor mir zu haben. Na ja, vielleicht keine guten Jahre. So funktioniert das nicht in meinem Alter. Ich baue schon seit einer ganzen Weile ab. Herz, Gelenke, Nieren – Stück für Stück geben meine Körperteile den Geist auf. Aber vor Kurzem kam noch etwas anderes dazu. Wucherungen in meiner Lunge, hat der Arzt gesagt. Tumoren. Krebs. Meine restliche Lebenszeit bemisst sich jetzt in Monaten, nicht Jahren ... Trotzdem bin ich noch nicht ganz bereit zum Sterben. Nicht heute. Ich habe etwas zu erledigen, etwas, das ich seit 1956 jedes Jahr getan habe. Eine große, alte Tradition kommt zu einem Ende, und mehr als alles andere habe ich mir eine letzte Gelegenheit gewünscht, mich zu verabschieden.

Schon seltsam, woran ein Mensch denkt, wenn er glaubt, dass der Tod unmittelbar bevorsteht. Zum Beispiel möchte ich, wenn denn meine Zeit abgelaufen ist, so lieber nicht abtreten – mit Schüttelfrost und klapperndem Gebiss, bis unausweichlich das Herz versagt. Ich weiß, was passiert, wenn man stirbt, ich war schon auf mehr Beerdigungen, als ich zählen kann. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich am liebsten im Schlaf gehen, zu Hause in einem bequemen Bett. Menschen, die so sterben, sehen bei der Aufbahrung gut aus, deshalb habe ich für den Fall, dass der Sensenmann mir hier auf die Schulter tippen sollte, bereits beschlossen, auf den Rücksitz zu klettern, wenn ich es irgendwie schaffe. Das Letzte, was ich will, ist, dass jemand mich hart gefroren im Sitzen findet wie eine groteske Eisskulptur. Wie bekäme man meine Leiche aus dem Wagen? So wie ich...