King Cotton - Eine Globalgeschichte des Kapitalismus

von: Sven Beckert

Verlag C.H.Beck, 2014

ISBN: 9783406659225 , 526 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

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King Cotton - Eine Globalgeschichte des Kapitalismus


 

Einleitung


Die Baumwollpflanze – die Art Gossypium hirsutum aus Zentralamerika ist inzwischen weltweit verbreitet

Ende Januar 1860 versammelten sich die Mitglieder der Handelskammer von Manchester im Rathaus zu ihrer Jahrestagung. Unter den 68 Unternehmern, die dort zusammenkamen, waren vor allem Baumwollkaufleute und Baumwollfabrikanten. In den vorangegangenen 80 Jahren hatten Männer wie sie Manchester zur bedeutendsten Industriestadt der Welt gemacht und zum Knotenpunkt eines globalen Netzwerks der Landwirtschaft, des Handels und der Industrie. Diese Kaufleute erwarben Rohbaumwolle aus den verschiedensten Anbauregionen und belieferten damit die Fabriken in der Umgebung von Manchester, in denen sich mittlerweile zwei Drittel aller weltweit betriebenen Baumwollspindeln drehten. Ein riesiges Heer von Arbeitern war damit beschäftigt, diese Baumwolle zu Garn zu spinnen und zu Stoffen zu weben, die dann von Händlern auf den Weltmärkten veräußert wurden.

Die versammelten Herren waren in Feierstimmung. Ihr Präsident Edmund Potter hob in seiner Ansprache das «beeindruckende Wachstum» ihrer Industrie und «den allgemeinen Wohlstand des ganzen Landes und ganz besonders dieser Region» hervor. Baumwollspinnereibesitzer John Cheetham pries den «ganz beträchtlichen Aufschwung, der sich in verschiedenen Fabriken bemerkbar macht», und schrieb diesen Erfolg größtenteils dem immensen Wachstum der asiatischen Märkte zu. Sein Publikum pflichtete ihm mit Zwischenrufen bei, als er fortfuhr, er rechne bald schon mit einer weiteren Expansion dieser Märkte, da die «Weber in Indien ihre schlecht bezahlten Tätigkeiten in diesem Handwerk aufgeben werden, um wieder der Beschäftigung nachzugehen, die wir ihnen nahelegen, nämlich der Landwirtschaft».[1]

Diese Baumwollfabrikanten und -kaufleute waren nicht ohne Grund so selbstgefällig: Sie standen im Zentrum eines weltumspannenden Imperiums – nicht des Britischen Empire, sondern des Imperiums der Baumwolle. Sie herrschten über Fabriken, in denen zehntausende von Arbeitern riesige Spinnmaschinen und lärmende mechanische Webstühle bedienten. Sie kauften Baumwolle von den amerikanischen Sklavenplantagen und verkauften ihre Fabrikerzeugnisse auf den Märkten in den entlegensten Winkeln der Erde. Indessen waren ihre eigenen Angelegenheiten – die Produktion und der Verkauf von Baumwollgarn und -stoff – nahezu banal. Sie waren die Besitzer von lauten, schmutzigen, überfüllten Fabriken; sie lebten in Städten, die schwarz waren vom Ruß der kohlebetriebenen Dampfmaschinen, und atmeten den Gestank von menschlichem Schweiß und Abfall. Sie beherrschten ein Imperium, wirkten aber kaum wie Herrscher.

Hundert Jahre zuvor deutete wenig auf diese neue Welt hin, die da entstanden war. Natürlich wussten einige Europäer von feinen indischen Musselinen, Chintzen und Kattunen, die von den Franzosen indiennes genannt wurden und in den Häfen von London, Barcelona, Le Havre, Hamburg und Triest ankamen. Frauen und Männer in den ländlichen Gegenden Europas spannen und webten in Heimarbeit geringe Mengen Baumwolle, konnten jedoch mit den prachtvollen Stoffen des Ostens kaum konkurrieren. In Süd- und Mittelamerika, in der Karibik, in Afrika und besonders in Asien säten die Menschen Baumwolle auf ihren Süßkartoffel-, Mais- und Hirsefeldern. Sie spannen die Faser und webten aus ihr die Stoffe, die ihre Familien benötigten oder die ihre Herrscher einforderten. Seit Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden stellten diese Menschen in diesen Teilen der Welt Baumwollgewebe her und bedruckten sie. Einige dieser Textilien wurden weltweit gehandelt; manche waren so außergewöhnlich fein, dass sie als «gewobener Lufthauch» bezeichnet wurden.

Anstelle von Frauen, die auf niedrigen Hockern in ihren Hütten saßen, an kleinen hölzernen Rädern spannen oder Spinnrocken und Spinnschalen bewegten, tanzten um 1860 nun Millionen mechanischer, dampfbetriebener Spindeln – von Lohnarbeitern, auch Kindern, betrieben – täglich 14 Stunden auf und ab und produzierten Millionen Pfund Garn. Anstelle von Familien, die Baumwolle anbauten und diese in ihren Haushalten zu Garn und handgewobenen Stoffen verarbeiteten, schufteten Millionen von Sklaven auf Plantagen in den Amerikas, tausende von Kilometern entfernt von den gierigen Fabriken, die sie belieferten, und diese Fabriken lagen wiederum tausende von Kilometern weit weg von den Verbrauchern, die ihre Textilien kaufen sollten. Anstelle von Karawanen, die westafrikanische Stoffe auf Kamelen durch die Sahara transportierten, überquerten Dampfschiffe die Weltmeere, bis zum Rand gefüllt mit Baumwolle aus den USA oder mit britischen Stoffen.

Niemand ahnte freilich im Jahr 1860, wie radikal sich die Welt der Baumwolle im folgenden Jahrhundert ein weiteres Mal verändern sollte. Um 1960 kamen Rohbaumwolle und die aus ihr gefertigten Garne und Stoffe wieder größtenteils aus Asien: aus China, der Sowjetunion und Indien. In Großbritannien, im restlichen Europa und in Neuengland blieben nur wenige Baumwollfabriken bestehen. In den ehemaligen Zentren der Baumwollverarbeitung – darunter Manchester, Mulhouse im Elsass, Barmen an der Wupper und Lowell in Massachusetts – geisterten nun erwerbslose Arbeiter zwischen verlassenen Fabriken herum. 1963 kam es sogar so weit, dass einer der bedeutendsten Handelsverbände der Baumwollindustrie, die Liverpool Cotton Association, ihre Einrichtung auf einer Auktion versteigern lassen musste.[2] Das Imperium der Baumwolle, zumindest der von Europa beherrschte Teil, war zusammengebrochen.

Ungeachtet dessen ist Baumwolle heute so allgegenwärtig, dass man sie kaum noch als das wahrnimmt, was sie tatsächlich ist: eine der großen Errungenschaften der Menschheit. Jeder Leser dieser Zeilen trägt mit großer Wahrscheinlichkeit etwas, das aus Baumwolle gewebt wurde. Und es ist genauso wahrscheinlich, dass kaum einer je eine Baumwollkapsel von ihrem Stängel gepflückt, die flaumige Strähne einer rohen Baumwollfaser gesehen oder den ohrenbetäubenden Lärm einer Spinnmaschine oder eines mechanischen Webstuhls gehört hat. Die Baumwolle ist uns gleichermaßen vertraut wie unbekannt. Wir tragen sie direkt auf unserer Haut. Wir schlafen in Bettlaken aus Baumwolle, wickeln unsere neugeborenen Babys in Baumwolltücher. Die Geldscheine, die wir verwenden, enthalten Baumwolle, genauso wie dieses Buch hier, wie die Kaffeepads in der Espressomaschine, wie Speiseöl, Seife oder Schießpulver (tatsächlich erhielt Alfred Nobel ein britisches Patent auf «Schießbaumwolle»).

Etwa 900 Jahre lang, von 1000 bis 1900, war die Baumwollindustrie die wichtigste verarbeitende Industrie der Welt. Auch wenn sie heute von anderen Industrien abgelöst wurde, bleibt sie hinsichtlich der Beschäftigung und des globalen Handels weiterhin bedeutend. Die Baumwolle ist noch immer so allgegenwärtig, dass 2013 weltweit mindestens 123 Millionen Baumwollballen produziert wurden, von denen jeder etwa 220 Kilogramm wog – genug, um 20 T-Shirts für jeden Erdenbürger herzustellen.[3] Würde man sie alle übereinander stapeln, entstünde ein Turm von etwa 64.500 Kilometern Höhe; horizontal aneinander gelegt, würden diese Ballen 1,5-mal um die Erde reichen. Riesige Baumwollplantagen sind über die ganze Welt verteilt, von China bis nach Indien und in die Vereinigten Staaten, von Westafrika bis nach Zentralasien. Diese rohen, zu dichten Ballen gepressten Fasern werden noch immer weltweit verschifft, bis zu den Fabriken, die hunderttausende von Arbeitern beschäftigen. Die fertigen Produkte werden überall verkauft – in entlegenen Dorfläden und in riesigen Discountmärkten. Tatsächlich gehören Baumwollwaren zu den ganz wenigen Erzeugnissen, die praktisch überall erhältlich sind und so vor Augen führen, welch beeindruckende Steigerung menschlicher Produktivität und menschlichen Konsums der Kapitalismus bewirkt hat.

Eine Welt ohne Baumwolle ist heute nicht mehr vorstellbar. Es ist eine Welt, in der Menschen auf Fellen oder Stroh schliefen. Es ist eine Welt, in der Frauen, Männer und Kinder sich in Wolle, oder, je nachdem, wo sie lebten und wie reich sie waren, in Pelze, Leinen oder Seide kleideten. Weil es schwierig war, diese Kleidung zu waschen, und weil sie teuer oder mühsam anzufertigen war, wechselte man sie nur selten. Diese Kleider rochen streng und sie kratzten. Sie waren größtenteils einfarbig, denn anders als Baumwollstoffe nahmen Wolle und andere Naturfasern Farbe weniger leicht an. Eine Welt ohne Baumwolle heute? Um die Menge an Wolle zu produzieren, die der heutigen Baumwollernte entspricht, bräuchte man etwa sieben Milliarden Schafe. Diese sieben Milliarden Schafe würden 700 Millionen Hektar Weideland benötigen, etwa die 1,6-fache Fläche der heutigen Europäischen Union.[4]

Eine solche Realität ist schwer vorstellbar. Aber auf einem kleinen Stück Land am westlichsten Rand Eurasiens war eine solche Welt ohne Baumwolle lange Zeit die Norm. Dieses Land war Europa. Bis zum 19. Jahrhundert war die Baumwolle dort zwar nicht unbekannt, aber dennoch unbedeutend. Wie kam es dazu, dass ausgerechnet Menschen in diesem Teil der Erde ein Baumwollimperium erschufen und beherrschten? Noch um 1700 etwa...