Accabadora

von: Michela Murgia

Verlag Klaus Wagenbach, 2014

ISBN: 9783803141682 , 176 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Accabadora


 

1


Fillus de anima, Kinder des Herzens.

So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen. In dieser zweiten Geburt wurde Maria Listru zum späten Segen für Bonaria Urrai.

Als die Alte unter dem Zitronenbaum mit ihrer Mutter Anna Teresa Listru sprach, war Maria sechs Jahre alt, ein ungewolltes Kind nach drei erwünschten. Ihre Schwestern waren schon junge Frauen, so saß sie allein auf dem Boden und buk eine Torte aus Schlamm mit lebenden Ameisen darin, mit der Achtsamkeit einer kleinen Dame. Die Ameisen im Teig ruderten mit den roten Beinen und starben langsam unter den Verzierungen aus Wildblumen und Zuckersand. In der sengenden Julisonne wuchs die Torte unter ihren Händen. Sie war so schön, wie es manchmal nur ungenießbare Dinge sein können. Als das Mädchen den Kopf hob, sah sie neben sich Tzia Bonaria Urrai im Gegenlicht stehen, sie lächelte, die Hände auf dem mageren Bauch, zufrieden mit dem, was Anna Teresa Listru ihr gegeben hatte. Was genau es war, das sie ihr gegeben hatte, verstand Maria erst einige Zeit später.

Am selben Tag noch ging sie mit Tzia Bonaria fort, in einer Hand die Torte aus Schlamm, in der anderen eine Tasche mit frischen Eiern und Petersilie, den armseligen Dankesgaben der Mutter.

Maria lächelte, obwohl sie tief im Inneren wusste, dass eigentlich Grund zum Weinen bestanden hätte, aber es gelang ihr nicht, diesen Grund zu fassen. Je weiter sie sich vom Elternhaus entfernte, desto blasser wurde die Erinnerung an das Gesicht der Mutter, beinahe so, als hätte sie es schon vor langer Zeit vergessen, in dem magischen Augenblick, in dem sie als kleines Mädchen zum ersten Mal alleine über die Zutaten ihrer Schlammtorte entschieden hatte. Noch Jahre später erinnerte sie sich dagegen an den glühenden Himmel und die Füße von Tzia Bonaria, die in Sandalen steckten und in einem stummen Tanz abwechselnd unter dem schwarzen Rocksaum hervorkamen und sich wieder versteckten, so schnell, dass die Beine kaum nachzukommen schienen.

Bei Tzia Bonaria bekam sie ein eigenes Bett ganz für sich allein und ein Zimmer voller Heiligenfiguren, die ihr bedrohlich vorkamen. In dem Moment verstand Maria, dass das Paradies kein Ort für Kinder war. Zwei Nächte lang lag sie reglos und starrte ins Dunkel, sie erwartete, dass eine der Figuren blutige Tränen weinen oder ein Heiligenschein aufleuchten würde. In der dritten Nacht erlag sie ihrer Angst vor der Jesusfigur mit dem ausgestreckten Zeigefinger, die furchteinflößend aussah mit ihren drei Rosenkränzen auf der blutverschmierten Brust. Sie konnte nicht mehr an sich halten und schrie.

Keine Minute später öffnete Tzia Bonaria die Tür und fand Maria an der Wand stehend, im Arm ein grobes Wollkissen, das sie zum Kuscheltier erkoren hatte. Dann fiel ihr Blick auf die Jesusfigur, die plötzlich näher am Bett zu stehen schien als vorher. Sie nahm die Statue unter den Arm und trug sie wortlos aus dem Zimmer. Am Tag darauf verschwanden von der Anrichte auch das Weihwasserbecken mit dem Bild der heiligen Rita und das Lamm aus Gips, das zottelig aussah wie ein streunender Hund und wild wie ein Löwe. Erst einige Zeit später begann Maria wieder, das Ave Maria zu beten, und auch nur ganz leise, damit die Madonna sie nicht höre und ernst nehme in der Stunde unseres Todes Amen.

Wie alt Tzia Bonaria damals war, lässt sich schwer sagen, denn sie schien seit Jahren nicht mehr zu altern, so als habe sie irgendwann beschlossen, auf einen Schlag alt zu sein und dann darauf zu warten, dass die verspätete Zeit sie einhole. Maria dagegen war zu spät angekommen im Bauch ihrer Mutter, und sie war von Anfang an daran gewöhnt, die letzte Sorge einer Familie zu sein, die davon schon zu viele hatte. Im Haus dieser Frau lernte sie plötzlich das ungewohnte Gefühl kennen, jemandem wichtig zu sein. Wenn sie morgens aus dem Haus ging, das Schulbuch vor die Brust gepresst, wusste sie, dass sie, wenn sie sich umdrehte, Tzia Bonaria sähe, die am Türpfosten lehnte und ihr nachschaute.

Maria war sich dessen nicht bewusst, aber die Alte war vor allem nachts bei ihr, in vielen ruhigen Nächten, in denen keine Sünde den Schlaf raubte. Sie betrat leise das Zimmer, setzte sich vor das Bett, in dem das Mädchen schlief, und betrachtete sie im Dunklen. In diesen Nächten schlummerte Maria selig, in der Gewissheit, unter den Gedanken Bonaria Urrais stets der erste zu sein, ohne von der Last zu wissen, die es bedeuten konnte, der einzige zu sein.

In Soreni verstand man nur zu gut, warum Anna Teresa Listru ihre jüngste Tochter zu der Alten gegeben hatte. Sie hatte die Ratschläge der Ihren ignoriert, den falschen Mann geheiratet und die darauffolgenden fünfzehn Jahre damit verbracht, über diesen Mann zu jammern, der bewiesen hatte, dass er nur für eine einzige Sache gut war. Bei den Nachbarinnen beklagte sich Anna Teresa Listru oft, dass ihr Ehemann es nicht einmal geschafft hatte, ihr im Tod nützlich zu sein, indem er beispielsweise im Krieg gestorben wäre und ihr eine Pension hinterlassen hätte. Ausgemustert wegen Untauglichkeit, war Sisinnio Listru auf ebenso dumme Weise gestorben, wie er gelebt hatte, zerquetscht wie eine Weintraube in der Presse vom Traktor Boreddu Arresis, bei dem er zeitweilig Halbpächter war. Als Witwe mit vier Töchtern zurückgeblieben, war Anna Teresa Listru nun nicht mehr nur arm, sondern bitterarm. Sie lernte, so sagte sie, selbst aus dem Schatten des Glockenturms noch Suppe zu kochen. Jetzt, da Tzia Bonaria die kleine Maria zur Tochter nehmen wollte, schien ihr die Aussicht auf zwei Kartoffeln von den Feldern der Urrai für die tägliche Minestra ein unermesslicher Glücksfall. Wenn sie dafür das Kind hergeben musste, machte das wenig: Sie hatte ja noch drei andere.

Warum allerdings Tzia Bonaria in ihrem Alter die Tochter einer anderen zu sich genommen hatte, das verstand niemand. Schweigen fiel über den Ort wie ein Schatten, wenn die Alte und das Mädchen zusammen durch die Straßen liefen, und immer wieder waren sie Grund für Tuscheleien in der Nachbarschaft. Bainzu, der Tabakhändler, labte sich an der Idee, dass auch die Reichen im Alter jemanden bräuchten, der ihnen den Hintern abwischte. Aber Luciana Lodine, die älteste Tochter des Installateurs, verstand nicht, warum man sich einen Erben beschaffen musste für etwas, das jedes anständig bezahlte Dienstmädchen ebenso gut übernehmen konnte. Ausonia Maullu, die von Hintern mehr verstand als jede Krankenschwester, beendete regelmäßig die Diskussion, indem sie beschied: Selbst ein Hund wolle nicht allein krepieren, und das brachte alle zum Schweigen.

Sicher, wäre Bonaria Urrai nicht reich gewesen, wäre sie so geendet wie alle anderen, die ohne Mann waren, anstatt sich eine fill’e anima ins Haus zu holen. Als Witwe eines Mannes, der sie nie geheiratet hatte, wäre sie eine Dirne geworden, Laienschwester oder Nonne, zeitlebens eingesperrt hinter geschlossenen Fensterläden und in Schwarz gehüllt. Der Krieg hatte ihr das Brautkleid geraubt, auch wenn einige im Dorf munkelten, dass Raffaele Zincu gar nicht wirklich in der Schlacht an der Piave gefallen sei: Eher glaubte man, er habe dort eine Frau gefunden und sich, schlau wie er war, Heimreise und lästige Erklärungen erspart. Vielleicht war das der Grund, warum Bonaria Urrai schon seit ihrer Jugend eine alte Frau war, und keine Nacht schien Maria so schwarz wie ihre Röcke. Das Dorf war voll von Witwen, deren Ehemänner in Wahrheit lebten, das wussten die Klatschweiber und das wusste auch Bonaria Urrai, und darum trug sie den Kopf stets hoch erhoben, wenn sie morgens frisches Brot kaufen ging. Sie blieb nie irgendwo zu einem Schwätzchen stehen, sondern kehrte schnurstracks nach Hause zurück.

Die Entscheidung, eine fill’e anima zu sich zu nehmen, wurde Bonaria jedoch weniger durch die Sensationslust der Leute erschwert als vielmehr durch das anfängliche Verhalten des Mädchens, das sie sich ins Haus geholt hatte. Nachdem sie sechs Jahre lang die Nächte in einem Zimmer mit drei Schwestern verbracht hatte, war Maria daran gewöhnt, nur den Raum um sich herum als den ihren zu begreifen, der nicht mehr als eine Armeslänge von ihr entfernt lag. Die Ankunft im Hause Bonaria Urrais stellte Marias Raumvorstellung auf den Kopf. In diesen Mauern war so viel Platz, dass es einige Wochen dauerte, bis sie begriff, dass aus den Türen der vielen Zimmer niemand heraustreten und sie zurechtweisen würde: »Nicht anfassen, das gehört mir.« Bonaria Urrai machte nicht den Fehler, ihr zu sagen, sie solle sich ganz wie zu Hause fühlen, und gab auch keine anderen der üblichen Banalitäten von sich, die zu nichts anderem dienen als den Gast daran zu erinnern, dass er eben nicht zu Hause ist. Sie wartete einfach ab, bis die Räume, die jahrelang leergestanden hatten, nach und nach die Form des Mädchens annehmen würden, und als nach einem Monat alle Türen der Zimmer geöffnet worden und offen stehen geblieben waren, hatte sie den Eindruck, dass es richtig gewesen sei, auf die Kraft des Hauses zu setzen. Nachdem Maria Vertrauen zu den neuen Wänden gefasst hatte, die sie umgaben, öffnete sie sich...