Pfade der Sehnsucht - O'Dwyer 2 - Roman

von: Nora Roberts

Heyne, 2014

ISBN: 9783641139346 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Pfade der Sehnsucht - O'Dwyer 2 - Roman


 

 

1

Herbst 1268

Nebelfetzen stiegen wie Atemhauch in trägem Wirbel vom Wasser auf, während Eamon in seinem kleinen Boot den Fluss entlangruderte. Die aus der Nachtruhe erwachende Sonne verströmte ein bleiches, kühles Licht und ließ die Vögel ihren morgendlichen Chor anstimmen. Eamon hörte das Krähen des Hahns, arrogant und wichtigtuerisch, und das Blöken von Schafen, die sich über die grünen Wiesen fraßen.

Lauter vertraute Geräusche, Klänge, die ihn seit fünf Jahren jeden Morgen begrüßten.

Sein Zuhause war dies jedoch nicht. Ganz gleich, wie ein­ladend, wie vertraut alles war, sein Zuhause würde es nie sein.

Und nach seinem Zuhause sehnte er sich. So groß war sein Heimweh, dass ihm davon die Knochen wehtaten wie einem ­alten Mann bei feuchtem Wetter, und sein Herz blutete wie das eines verschmähten Liebhabers.

Zudem schwelte unter all dem Sehnen und Wünschen, dem Schmerz, dem Bluten, beständig ein Zorn, der von Zeit zu Zeit aufwallte und ihm in der Kehle brannte wie ein heftiger Durst.

In manchen Nächten träumte er von zu Hause, von der ­Hütte im Wald, wo er jeden Baum, jede Windung der Pfade kannte. Und in manchen Nächten waren diese Träume so wirklich wie das Leben, sodass er das Torffeuer und den süßen Duft der Binsen seines Betts riechen konnte, zwischen die seine Mutter für einen guten Schlaf und schöne Träume Lavendel gemischt hatte.

Er konnte ihre Stimme hören, ihr leises Singen unter dem Schlafboden, wo sie Zaubertränke und Kräutertees mischte.

»Dunkle Hexe« hatten sie seine Mutter genannt – respektvoll, denn sie war mächtig und stark, freundlich und gut. Und so erwachte Eamon in manchen Nächten, wenn er von zu Hause träumte und seine Mutter von unten singen hörte, mit Tränen auf den Wangen.

Die er hastig wegwischte. Er war jetzt ein Mann, volle zehn Jahre alt, das Familienoberhaupt, wie sein Vater es vor ihm gewesen war.

Tränen waren Weiberkram.

Außerdem musste er auf seine Schwestern aufpassen, erinnerte er sich und ließ das Boot leicht dahintreiben, während er die Ruder in die Dollen legte und die Angelschnur ins Wasser hängte. Brannaugh war vielleicht die Älteste, doch er war der Mann in der Familie. Er hatte einen Schwur geleistet, Brannaugh und Teagan zu beschützen, und das würde er auch tun. Er hatte das Schwert ihres Großvaters geerbt. Er würde es benutzen, wenn die Zeit dazu gekommen war.

Und sie würde kommen.

Denn da waren noch andere Träume – Träume, die ihm Angst machten statt Kummer. Träume von Cabhan, dem schwarzen Zauberer. Sie bildeten eisige Klumpen der Furcht in seinem Bauch, die trotz des glühenden Zorns gefroren. Es war eine Furcht, die den kleinen Jungen in ihm nach der Mutter rufen lassen wollte.

Doch er konnte es sich nicht erlauben, Angst zu haben. Seine Mutter war fort, hatte sich geopfert, um ihn und seine Schwestern zu retten, wenige Stunden nachdem Cabhan ihren Vater getötet hatte.

Den Vater vor seinem inneren Auge zu sehen gelang ihm kaum noch, zu oft brauchte er die Hilfe des Feuers, um das Bild zu finden – das Bild des großen, stolzen Daithi, des Cennfine, des Clanchefs mit dem hellen Haar, der so gerne gelacht hatte. Doch er brauchte nur die Augen zu schließen, um seine Mutter zu sehen – bleich wie der nahende Tod stand sie vor der Hütte im Wald an jenem nebligen Morgen, während er mit seinen Schwestern davonritt, Kummer im Herzen, junge, brennende Macht im Blut.

Seit jenem Morgen war er kein Junge mehr, sondern einer der drei, der dunklen Hexen, durch Blut und Schwur dazu bestimmt, das zu vernichten, was selbst seine Mutter nicht zu zerstören vermocht hatte.

Ein Teil von ihm brannte darauf, zu beginnen und diese Zeit in Galway zu beenden, auf dem Hof ihrer Cousine, wo morgens der Hahn krähte und die Schafe auf den Wiesen blökten. Der Mann und der Hexer in ihm sehnten sich danach, dass diese Zeit vorüberging, sehnten sich nach der Kraft, das Schwert des Großvaters zu schwingen, ohne dass sein Arm unter dem Gewicht zitterte. Nach der Zeit, in der er seine Macht ganz ausschöpfen und die Hexenkunst ausüben konnte, die ihm durch Blut und Recht zustand. Der Zeit, in der er Cabhans Blut vergießen und es schwarz und brennend über den Boden strömen würde.

Doch in seinen Träumen war er ein kleiner Junge, unerprobt und schwach, verfolgt von dem Wolf, in den Cabhan sich verwandelte, dem Wolf mit dem roten Stein der schwarzen Macht, der an der Kehle schimmerte. Und es war sein eigenes Blut und das seiner Schwestern, das warm und rot über den Boden rann.

Nach den schlimmsten Träumen ging er morgens zum Fluss, ruderte hinaus, um zu angeln, allein zu sein, auch wenn er an den meisten Tagen die Gesellschaft im Cottage brauchte, die Stimmen, die Düfte aus der Küche.

Doch nach den Blutträumen musste er fort – und niemand tadelte ihn dafür, dass er nicht beim Melken half, auch nicht beim Ausmisten oder Füttern, nicht an jenen Morgen.

Und so saß er im Boot, ein schmächtiger Junge von zehn Jahren mit einem braunen, vom Schlaf verwuschelten Haarschopf und den wilden blauen Augen seines Vaters, der strahlenden, in ihm aufkeimenden Macht seiner Mutter.

Er konnte zuhören, wie der Tag um ihn herum erwachte, geduldig darauf warten, dass ein Fisch anbiss, und den Haferkuchen essen, den er aus der Küche seiner Cousine mitgenommen hatte.

Und er konnte wieder zu sich selbst finden.

Der Fluss, die Stille, das sanfte Schaukeln des Bootes erinnerten ihn an den letzten glücklichen Tag, den er mit seiner Mutter und den Schwestern erlebt hatte.

Sie hatte gut ausgesehen, nachdem sie den ganzen Winter über so blass und erschöpft gewesen war. Sie alle hatten die Tage bis Bealtaine und bis zur Rückkehr seines Vaters gezählt. Dann würden sie ums Feuer sitzen, hatte Eamon sich vorgestellt, Kuchen essen und mit Honig gesüßten Kräutertee trinken, während sie den Geschichten lauschten, die der Vater von den Raubzügen und der Jagd erzählte.

Sie würden ein Festmahl halten, und seiner Mutter würde es wieder gut gehen.

So hatte er geglaubt, an jenem Tag auf dem Fluss, an dem sie geangelt und gelacht hatten, und alle hatten daran gedacht, wie bald der Vater zu Hause sein würde.

Doch er war nie gekommen, denn Cabhan hatte seine dunkle Zauberkraft verwendet, um Daithi den Tapferen zu töten. Und Sorcha, die Dunkle Hexe … Auch wenn sie Cabhan zu Asche verbrannt hatte, war es ihm irgendwie gelungen, sie zu töten und weiterzuexistieren.

Das wusste Eamon durch die Träume, das Kribbeln, das ihm den Rücken hinunterlief. Und er sah in den Augen seiner Schwestern, dass es die Wahrheit war.

Ihm blieb nur die Erinnerung an jenen strahlenden Frühlingstag auf dem Fluss. Selbst als es an seiner Angelschnur zerrte, wanderten seine Gedanken dorthin zurück, und er sah sich als Fünfjährigen, der einen glänzenden Fisch aus dem dunklen Wasser zog.

Er spürte heute den gleichen Stolz wie damals.

»Ailish wird sich freuen.«

Seine Mutter lächelte ihm zu, als er den Fisch in den Eimer mit Wasser gleiten ließ, um ihn frisch zu halten.

Sie kam zu ihm, weil er sie so brauchte, und spendete ihm Trost. Er steckte einen neuen Köder auf seinen Haken, während die Sonne wärmer wurde und die Nebelfinger aufzulösen begann.

»Wir brauchen mehr als einen.«

Das hatte sie gesagt, erinnerte er sich, an jenem längst vergangenen Tag.

»Also fängst du mehr als einen.«

»Mir wäre es lieber, ich würde in meinem eigenen Fluss mehr als einen fangen.«

»Das wirst du eines Tages. Eines Tages kehrst du nach Hause zurück, mo chroi, mein Herz. Eines Tages werden deine Nachkommen in unserem Fluss angeln und durch unseren Wald laufen. Das verspreche ich dir.«

Die Tränen wollten ihm kommen, verwischten sein Bild der Mutter, sodass es vor seinen Augen verschwamm. Er bezwang sie mit seinem Willen, denn er wollte die Mutter klar sehen.

Das dunkle Haar, das ihr offen bis zur Taille herabfiel, die dunklen Augen, in denen die Liebe lebte. Und die Kraft, die sie ausstrahlte. Selbst jetzt, da sie nur eine Vision war, spürte er ihre Macht.

»Warum konntest du ihn nicht zerstören, Ma? Warum konntest du nicht am Leben bleiben?«

»Es sollte nicht sein. Mein Liebling, mein Junge, mein Herz, wenn ich dich und deine Schwestern hätte verschonen können, hätte ich dafür mehr als mein Leben gegeben.«

»Du hast mehr gegeben. Du hast uns deine Macht gegeben, beinahe alles davon. Wenn du sie behalten hättest …«

»Für mich war es an der Zeit, und es war euer Geburtsrecht. Ich bin damit zufrieden, glaube mir das.« Im dünner werdenden Nebel glühte sie, eingefasst von einem Silberstreif. »Ich bin immer in dir, Eamon der Getreue. Ich bin in deinem Blut, deinem Herzen, deinem Geist. Du bist nicht allein.«

»Du fehlst mir.«

Er spürte ihre Lippen auf der Wange, ihre Wärme, ihren Duft, der ihn einhüllte. Und für diesen Moment, nur für diesen Moment, konnte er wieder Kind sein.

»Ich werde tapfer und stark sein, das schwöre ich. Ich beschütze Brannaugh und Teagan.«

»Ihr beschützt einander. Ihr seid die drei. Gemeinsam seid ihr mächtiger, als ich es jemals war.«

»Werde ich Cabhan töten?« Denn das war sein stärkster, sein dunkelster Wunsch. »Werde ich ihn...