Die Stadt der verschwundenen Kinder - Roman

von: Caragh O'Brien

Heyne, 2011

ISBN: 9783641060435 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Die Stadt der verschwundenen Kinder - Roman


 

1
Die Babyquote
Im Halblicht der ärmlichen Hütte zwang sich die Frau, ein letztes, qualvolles Mal zu pressen, und das Baby glitt heraus, in Gaias griffbereite Hände.
»Gut gemacht«, lobte sie. »Wundervoll. Es ist ein Mädchen.«
Das Baby schrie ungehalten, Gaia aber seufzte erleichtert, als sie Finger, Zehen und den Rücken abtastete. Es war ein gutes Baby, gesund und wohlgeformt, bloß klein. Sie wickelte es in eine Decke und hielt das Bündel dann in den flackernden Feuerschein, damit die erschöpfte Mutter ihr Kind sehen konnte.
Gaia wünschte, ihre eigene Mutter wäre hier, vor allem, um sich um die Nachgeburt und das Kind zu kümmern. Sie wusste, dass sie der Frau das Kind eigentlich nicht geben durfte, nicht einmal einen kurzen Moment, aber jetzt griff diese schon danach, die Hände zärtlich ausgestreckt. »Bitte«, flüsterte sie, und Gaia brachte es einfach nicht übers Herz. Sie reichte ihr das Baby, und die Schreie verebbten. Sie versuchte, den sanften, beruhigenden Singsang zu überhören, während sie gründlich und vorsichtig, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte, zwischen den Beinen der Frau sauber machte. Sie war aufgeregt und auch ein wenig stolz. Das hier war ihre erste Geburt. Sie hatte ihrer Mutter schon oft assistiert und seit Jahren gewusst, dass sie einmal Hebamme werden würde. Heute war es endlich so weit.
Fast geschafft. Sie holte den kleinen Teekessel und die beiden Tassen aus der Tasche, die ihre Mutter ihr vor einem Monat zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sie goss Wasser in den Kessel und schürte das Feuer, dessen Widerschein mild auf der Mutter mit ihrem kleinen, ruhigen Bündel schimmerte.
»Das hast du gut gemacht«, lobte Gaia noch einmal. »Dein wievieltes Kind ist es doch gleich? Vier, sagtest du?«
»Sie ist mein erstes«, sagte die Frau, ihre Stimme warm vor Ehrfurcht und Behagen.
»Wie bitte?«
Die Frau lächelte scheu und strich sich in einer verlegenen Geste eine schweißnasse Locke hinters Ohr. »Ich wollte es dir vorher nicht sagen. Ich hatte Angst, du würdest nicht bleiben.«
Gaia ließ sich neben das Feuer sinken, hängte den Kessel an die Metallstange und schob ihn über die Flammen, damit er sich erwärmte.
Die erste Niederkunft war immer die schwerste, die gefährlichste, und obwohl diese hier glimpflich verlaufen war, wusste Gaia, dass sie Glück gehabt hatte. Das wäre die Sache einer erfahrenen Hebamme gewesen, auch wegen dem, was als Nächstes kommen würde.
»Ich hätte dich nicht im Stich gelassen«, sagte Gaia sanft, »aber nur, weil niemand sonst gekonnt hätte. Meine Mutter war schon auf dem Weg zu einer anderen Geburt.«
Die junge Frau schien ihr kaum zuzuhören. »Ist sie nicht wunderschön?«, murmelte sie. »Und sie gehört mir. Ich werde sie behalten.«
Oh nein, dachte Gaia. Ihr Wohlbehagen und ihr Stolz lösten sich in Luft auf, und sie wünschte sich nun mehr denn je, dass ihre Mutter bei ihr wäre. Oder wenigstens die alte Meg. Oder überhaupt irgendjemand.
Gaia öffnete ihre Tasche und nahm eine frische Nadel und ein Fässchen braune Tinte heraus. Sie gab ein paar Teeblätter aus der Dose in den Kessel. Langsam füllte sich der Raum mit einem ahnungsvollen Duft, und die Frau lächelte wieder müde und entspannt. »Wir haben uns nie unterhalten«, sagte sie, »aber ich habe dich und deine Mutter oft gesehen, auf dem Marktplatz und auf dem Weg hoch zur Mauer. Jeder sagt, dass du eine genauso gute Hebamme wie deine Mutter werden wirst, und jetzt kann ich das bestätigen.«
»Hast du einen Ehemann? Eine Mutter?«, fragte Gaia.
»Nein. Sie leben nicht mehr.«
»Wer war der Junge, den du zu mir geschickt hast? Dein Bruder?«
»Nein. Nur ein Kind, das gerade vorbeikam.«
»Also hast du niemanden?«
»Nicht mehr. Aber jetzt habe ich ja mein Baby, meine Priscilla.«
Ein schlechter Name, dachte Gaia. Doch das Mädchen würde ihn sowieso nicht lange tragen. Gaia streute eine Prise Herzspannkraut in die Tasse der jungen Mutter und goss dann schweigend Tee in beide Tassen, während sie überlegte, wie sie es am besten angehen sollte. Sie ließ ihr Haar nach vorn fallen, sodass es die linke Seite ihres Gesichts verdeckte, und packte den leeren, noch warmen Kessel in ihre Tasche.
»Hier«, sagte sie, reichte der jungen Frau auf dem Bett die mit Herzspannkraut versetzte Tasse und nahm ihr vorsichtig das Kind ab.
»Was tust du da?«, fragte die Mutter.
»Trink einfach. Das wird dir gegen die Schmerzen helfen.« Gaia nahm einen Schluck aus ihrer eigenen Tasse, um es ihr zu zeigen.
»Ich habe keine schlimmen Schmerzen mehr. Ich bin nur ein bisschen müde.«
»Das ist gut«, sagte Gaia und stellte ihre Tasse wieder am Herd ab.
Still packte sie ihre Sachen zusammen und beobachtete, wie die Augenlider der Mutter schwerer wurden. Sie wickelte die Beine des Babys aus und zog behutsam einen Fuß hervor. Dann legte sie das Baby nahe beim Herdfeuer auf eine Decke. Die Augen des Babys öffneten sich und glänzten im Feuerschein: dunkle, unergründliche Augen. Es war unmöglich zu sagen, welche Farbe sie einmal haben würden. Gaia tunkte einen sauberen Stofffetzen in ihre Teetasse, bis der Fetzen die letzten Reste aufgesogen hatte. Dann wischte sie damit über den Knöchel und säuberte ihn. Sie tauchte die Nadel in die braune Tinte, hielt sie kurz ins Licht und stieß sie dann rasch, in vier schnellen Stichen, in den Knöchel des Babys, wie sie es schon oft unter der Anleitung ihrer Mutter getan hatte. Das Kind schrie auf.
»Was tust du da?«, rief die Mutter, jetzt hellwach.
Gaia wickelte das Baby, das nun sein Geburtsmal besaß, wieder in die Decke und hielt es fest an sich gedrückt. Sie ließ Teetasse, Nadel und Tinte in ihre Tasche gleiten. Dann tat sie einen Schritt nach vorn und nahm die andere Tasse von der Seite der Mutter. Sie legte sich ihre Tasche um.
»Nein!«, rief die Mutter. »Das kannst du nicht tun! Es ist der einundzwanzigste April! Niemand bringt so spät im Monat noch ein Baby vor!«
»Das Datum spielt keine Rolle«, sagte Gaia ruhig. »Es sind die ersten drei Babys jeden Monat.«
»Aber du musst doch mittlerweile schon ein halbes Dutzend entbunden haben!«, schrie die Frau, richtete sich auf und mühte sich, ihre Beine über den Bettrand zu schwingen.
Gaia wich einen Schritt zurück und streckte den Rücken durch. »Meine Mutter hat die anderen Kinder entbunden. Dieses hier ist mein erstes«, sagte sie. »Es sind die ersten drei Babys für jede Hebamme.«
Die Frau starrte sie an, das Gesicht von Entsetzen gezeichnet. »Das kannst du nicht tun«, flüsterte sie. »Du darfst mir mein Baby nicht wegnehmen. Sie gehört mir.«
»Ich muss«, sagte Gaia und trat einen weiteren Schritt zurück. »Es tut mir leid.«
»Aber das kannst du nicht«, keuchte die Frau.
»Du wirst andere Kinder haben. Einige wirst du behalten. Das verspreche ich dir.«
»Bitte«, flehte sie. »Nicht dieses Kind. Nicht mein einziges. Womit habe ich das verdient?«
»Es tut mir leid«, wiederholte Gaia. Sie hatte nun die Tür erreicht. Sie sah, dass sie ihre Teedose neben der Feuerstelle vergessen hatte, aber zum Umkehren war es jetzt zu spät. »Man wird sich gut um dein Baby kümmern«, sagte sie und gebrauchte die Worte, die sie gelernt hatte. »Du hast der Enklave einen großen Dienst erwiesen, und man wird dich dafür entschädigen.«
»Nein! Sag ihnen, dass sie ihre dreckigen Entschädigungen behalten sollen! Ich will mein Kind.«
Die Frau stürzte sich auf sie, aber Gaia hatte damit gerechnet. Im nächsten Moment war sie schon aus der Hütte und eilte die dunkle Gasse hinab. An der zweiten Ecke musste sie anhalten, weil sie so stark zitterte, dass sie befürchtete, alles fallen zu lassen. Das Neugeborene gab einen einsamen, unruhigen Laut von sich, und Gaia rückte ihre Tasche über der rechten Schulter zurecht, sodass sie das kleine Bündel mit zitternden Fingern tätscheln konnte. »Still«, flüsterte sie.
Weit hinter sich hörte sie, wie eine Tür sich öffnete, und dann eine ferne, verzweifelte Klage. »Bitte! Gaia!«, und Gaias Herz setzte einen Schlag lang aus.
Sie verbiss sich die Tränen und blickte den Hügel hoch. Das war viel schlimmer, als sie gedacht hatte. Mit gespitzten Ohren, in Erwartung einer weiteren Klage, setzte sie sich wieder in Bewegung und schritt rasch den Hügel zur Enklave empor. Der Mond warf sein bläuliches Licht auf die dunklen Holz- und Steinhäuser um sie herum, und einmal stieß sie sich den Fuß. Ihre Eile wirkte seltsam unangemessen in der tiefen, schläfrigen Stille der Nacht.
Sie war diesen Weg im Auftrag ihrer Mutter schon viele Male gegangen, doch bis heute Nacht war er ihr nie wie eine weite Reise vorgekommen. Sie wusste, dem Baby würde es gut gehen. Sie wusste, die Frau würde andere Kinder haben. Vor allem aber wusste sie, das Gesetz verlangte von ihr, dass sie dieses Baby ablieferte, und wenn sie es nicht tat, wäre ihr Leben und das ihrer Mutter verwirkt. Sie wusste das alles, und dennoch wünschte sie, dass es anders wäre, dass sie dieses Kind zurück zu seiner Mutter bringen und ihr sagen könnte: Hier, nimm die kleine Priscilla. Flieh mit ihr ins Ödland und kehre niemals zurück.
Sie trat um die letzte Ecke und sah die gewölbten Flügel des Südtors, darüber eine einzelne, helle Glühbirne in einer Laterne aus verspiegeltem Glas, die ihr Licht auf das Tor und den festgestampften Boden warf. Zwei Wachen in schwarzen...