Auf fremden Pfaden - Karl May´s Gesammelte Werke Band 23

von: Karl May

Karl-May-Verlag, 1954

ISBN: 9783780217233 , 471 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 6,99 EUR

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Auf fremden Pfaden - Karl May´s Gesammelte Werke Band 23


 

MARIA ODER FATIMA (S. 345-346)

Wir, nämlich ich und mein treuer, langjähriger Beglei- ter, Hadschi Halef Omar, hatten die zwischen dem Kaspi- schen Meer und dem Urmia-See liegende Gegend durch- streift und waren dann über die türkische Grenze nach Rowandis gekommen, um von da aus in gerader Richtung nach Amadije zu reiten. Heute befanden wir uns im östli- chen Teil des Tura-Ghara-Gebirges1 und hielten auf einer kahlen Höhe, von der aus wir die Sonne untergehen sahen.

Es war ziemlich kalt, denn wir befanden uns im An- fang Oktober, der zwischen jenen düsteren, wald- und wasserreichen Bergen rau aufzutreten pflegt. Es hat bis heute2 wenige Europäer gegeben, von denen man sagen kann, dass sie den Mut besaßen, bis zu dem Tura- Ghara-Gebirge vorzudringen. Die Kurden, die es bewoh- nen, sind die bigottesten Muhammedaner, die man sich den- ken kann, räuberisch gegen jedermann und grausam gegen Andersgläubige.

Wir beide jedoch waren wohlbewaffnet, hatten Erfahrung genug, und da ich ihrer Sprache in den zwei Hauptdialekten mächtig war, durften wir hoffen, heiler Haut davonzukommen. Die Sonne hatte den Gipfel des gegenüberliegenden Ber- ges erreicht und senkte ihre Strahlenaureole langsam hin- ab, den Himmel mit glühenden Scheidegrüßen über- zuckend. Es war ein Anblick, der zum Gebet stimmte. Ich dachte an das Ave-Läuten der Heimat und faltete die Hän- de. Halef tat dasselbe, er, der, als ich ihn kennen lernte, ein so strenger Muslim gewesen war und sich alle Mühe gegeben hatte, mich zu seinem Glauben zu bekehren.

Da klang aus der Tiefe ein Ton, der mich erstaunt auf- horchen ließ. Es war die leise, aber doch vernehmbare Silberstimme eines Glöckchens, und kaum ließ sie sich ver- nehmen, so hörten wir in unserer Nähe eine andere, lau- tere Stimme: „Salâm iâ Marjam malânet et taufîk!“ Dies heißt zu Deutsch: „Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade!“ Das war ja der Anfang des Ave Maria, des englischen Grußes, an den ich soeben gedacht hatte! Er wurde in ara- bischer Sprache vollständig gebetet, bis es zum dritten Mal erklang: „Hallak wa fi Sa’at el motina – jetzt und in der Stunde unseres Todes!“

Ich möchte fast sagen: Ich war starr vor Überraschung. Dieses christliche Gebet hier, wo ich ausschließlich Muham- medaner wusste, und dazu in einer arabischen Mundart, die von anderwärts stammte! Meinem wackeren Halef er- ging es ebenso. Er sagte, als der Beter geendet hatte: „Hast du es gehört, Sihdi? Das war das Gebet der heiligen Jungfrau. Das ist ein Wunder hier! Wer mag es gesprochen haben?“ „Werden es gleich erfahren“, antwortete ich, während ich meinen Rapphengst nach der Gegend lenkte, in der die Stimme erklungen war.

Dort war ein großer Felsblock. Auf der nach Westen gerichteten Seite, sodass er den Sonnen- untergang hatte sehen können, kniete der Beter, ein ärm- lich gekleideter Greis, den Rosenkranz noch immer in den gefalteten Händen. Sein Anzug bestand aus einem kurzen Hemd und einer Hose, beides aus dünner, blauer Leinwand; die Füße waren nackt und auch der Kopf hatte keine Bede- ckung. Das silberweiße Haar hing ihm lang über den Na- cken herab, und von derselben ehrwürdigen Farbe war auch der Bart, der ihm bis auf die Brust reichte.