Fehlurteil - Justiz-Thriller

von: Sascha Berst

Gmeiner-Verlag, 2014

ISBN: 9783839243183 , 320 Seiten

4. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Fehlurteil - Justiz-Thriller


 

1. Kapitel


Was war das für eine Frau, die es wagte, einen hohen Richter, ehemaligen Staatssekretär und Abgeordneten anzuklagen, allen Einflüssen und Einflüsterungen, Drohungen und Verlockungen zum Trotz, die ihr bei dieser Aufgabe täglich begegneten, die Hohn und Spott ihrer Gegner ebenso zu ertragen vermochte, wie den Applaus und das Lob falscher Freunde? Was war anders, was war besonders an dieser jungen Staatsanwältin, von der man vor den Ermittlungen, die sie für die einen berühmt und für viele andere berüchtigt machten, nie etwas gehört hatte? Und wie könnten diese Fragen beantwortet werden, ohne einen Blick in ihre Seele zu werfen und vielleicht auch in meine?

Wie war sie also? Engagiert? Ja. Zielstrebig? Ja. Leidenschaftlich? Ja – all das ohne Zweifel und vielleicht alles ein bisschen zu sehr … Vor allem war sie auf der Suche, und dies schon zu einem Zeitpunkt, als sie selbst es noch gar nicht wusste, lange bevor dieser kleine alte Mann sie ansprach und in ihr Leben trat …

Margarethe würde sagen, es sei ihr Schicksal gewesen, dass sich ihr gerade diese Aufgabe stellte und sie hätte damit recht, wenn man mit dem Begriff Schicksal weniger die Vorsehung, als vielmehr die Eigenart unseres Lebens verbindet, die Rätsel, die es uns stellt, eines Tages zu unserem Glück oder Unglück auch zu lösen und die Fragen zu beantworten, die unsere Lebensläufe nun einmal begleiten. Gibt es nur ein Leben, das nicht auf ein Geheimnis weist? Wir alle werden von unseren Schatten verfolgt.

Meine Rolle bei den Ereignissen war schlichter, bin ich doch durch bloßen Zufall zu ihnen gekommen, durch Zufall und auch ein wenig durch Zuneigung, das will und werde ich nicht leugnen. Nennen wir es Schicksal, so war ich dabei, als Margarethe ihm begegnete. Zufällig, wie gesagt, zufällig und ohne jeden Anlass, aber eben doch dabei, und dieser Moment hat uns verbunden und verknüpft, wie zwei Pflanzen, die umeinander ranken, auch wenn mir die Bedeutung dieses Treffens nicht von Anfang an klar war und nicht klar sein konnte, obwohl ich die Bestürzung in ihrem Blick sah. Ja, Bestürzung.

Margarethe begegnete ihrem Schicksal in Gestalt eines geradezu zarten alten Mannes mit weißem Haar, feinen Gliedern und klugem Gesicht. Es war ein regnerischer Tag im März. Ich kam ein wenig zu spät zur Arbeit und war zu allem Überfluss in einen heftigen Regenschauer geraten, dem weder mein Schirm noch mein dünner Mantel hatten standhalten können. Als ich endlich bei der Staatsanwaltschaft ankam, konnte ich kaum durch meine Brille sehen; das Wasser tropfte an mir herunter, als regnete es aus meinen Kleidern. Während ich meinen Mantel am Eingang auszog und sich zu meinen Füßen kleine Lachen bildeten, entdeckte ich Margarethe. Sie stand ein paar Meter von der Pforte entfernt und sprach mit eben jenem Mann, der ihr, gerade als ich zur Begrüßung verstohlen winkte, einen Stapel Papiere in die Hand drückte, die er zuvor aus einer unansehnlichen Plastiktüte gezogen hatte. Den Alten hatte ich in den letzten Tagen schon ein paar Mal vor der Staatsanwaltschaft warten und unentschlossen zur Eingangstüre schielen sehen. Er war mir aufgefallen, weil er so zart war, fast zerbrechlich, ganz und gar ungewöhnlich für einen Mann, selbst für einen Mann seines Alters. Als ich ihn neben ihr stehen und auf sie einreden sah mit seinem schwarzen Hut, von dem der Regen tropfte, der dicken Jacke, deren schwarz-weißes Fischgräten-Muster zuletzt vor 20 Jahren modern gewesen sein mochte, den eindringlichen Gesten und einem Blick, der wie besessen schien, hielt ich ihn für einen Querulanten, wie man sie auf den Gängen der Gerichte, Behörden und Kanzleien immer wieder trifft. Männer meist, oft ungepflegt und ungewaschen, die davon überzeugt sind, dass ihnen bitterstes Unrecht geschehen ist, und nun, bewaffnet mit Stapeln von zerschlissenen Papieren, Unterlagen, Urteilen, ausgerissenen Zeitungsartikeln, Briefen, Bittschriften und Petitionen einen Richter oder einen Anwalt suchen, der ihnen helfen soll, ja, helfen muss, das vermeintliche Unrecht ungeschehen zu machen. Sie fordern Gerechtigkeit!, lautstark und unbedingt, und ahnen dabei nicht, dass das Wort allein schon den Juristen unangenehm berührt, vielleicht ebenso wie den Theologen die Frage nach Gott!, weil es uns in Verlegenheit bringt, dieses Wort Gerechtigkeit. Es ist uns unangenehm, ein wenig peinlich, so wie uns Eltern etwas niedrigerer sozialer Stellung, als wir sie selbst erwerben konnten, peinlich sind. Die Wahrheit ist, wir wissen nicht, was das ist, Gerechtigkeit! Wir suchen daher gar nicht nach ihr. Gesetze sind das, was wir statt der Gerechtigkeit anzubieten haben, Regeln, Definitionen, Verfahren. Sie zu beherrschen, ist schwer genug. Sie sind die kleine Münze, in der wir zu zahlen in der Lage sind. Daher scheint uns die Frage nach Gerechtigkeit naiv, wir haben uns abgewöhnt, sie zu stellen. Solche Gestalten kennt jedes Mitglied unserer Zunft, und nur ein ausgesprochener Anfänger kann sich ihnen nicht innerhalb von nur ein paar Minuten entziehen.

Margarethe würde ihn gleich abwimmeln, dessen war ich mir sicher. Vielleicht sollte ich einfach auf sie warten. Das Gespräch mit ihm war ihr unangenehm, sichtlich wollte sie ihn loswerden und die Unterlagen, die er ihr in die Hand drückte, nicht haben. Sie wusste, wenn sie die Papiere erst einmal in Händen hielt, blieb ihr nichts anderes übrig, als sie anzusehen, zumindest einen Blick darauf zu werfen, und sich dabei blitzschnell eine Ausrede einfallen zu lassen, um sie und den Bittsteller wieder loszuwerden und mit ihm die Frage nach Gerechtigkeit, um sich wieder ihrer eigentlichen Arbeit zu widmen, der Kärrnerarbeit der Justiz. Gleich würde sie ihm erklären, dass sie seine Lage verstehe und ihm wirklich gerne helfen würde, aber leider, ja leider nicht zuständig sei, dass es gewiss das Beste sei, einen Rechtsanwalt zu suchen, der sich seiner annimmt. Empfehlen? Nein, empfehlen dürfe sie niemanden, das sei ihr nicht erlaubt, aber die Anwaltskammer werde ihm weiterhelfen. Dort, ja, dort wisse man Rat, gewiss gebe es einen Anwalt, spezialisiert auf dem Gebiet, um das es gehe. Und ja, vielleicht bekomme er auch Prozesskostenhilfe; sei schließlich sein gutes Recht.

Doch das tat sie nicht. Der Alte redete auf sie ein – ich konnte leider nicht verstehen, was er sagte, dazu war ich zu weit entfernt, meinte allerdings in seiner Aussprache einen eigentümlichen Akzent zu hören, rau, guttural – redete und redete bis Margarethe sich mit einem Mal die Hand auf den Mund legte. Ich sah ihre Augen; sie waren weit aufgerissen. Der kleine Mann musste etwas gesagt haben, das sie überrascht, sogar bewegt hatte, anders war diese Geste, war ihr Ausdruck nicht zu erklären. Es war Bestürzung, die ihre Gesichtszüge formte; das sah ich, habe es jedoch erst später verstanden.

Ich war wieder einigermaßen hergestellt und hatte keinen Grund mehr, unten stehen zu bleiben. Ich wandte mich also zur Treppe, um nach oben in mein Büro zu gehen, wo meine Kunden warteten: Diebe, Räuber, Vergewaltiger … wie es gerade kam … Dabei versuchte ich Margarethes Blick auf mich zu ziehen, damit sie mir ein Zeichen geben konnte, falls sie mich brauchte, um den Alten loszuwerden. Doch sie war ihm und seinen Papieren schon ganz und gar zugewandt.

Drei Tage später stand sie in meinem Büro. Ich wusste noch, dass sie ein steifes grünes Kostüm und eine weiße Bluse anhatte, in denen sie blass und kränklich wirkte wie ein Gesicht im Neonlicht und die so gar nicht zu ihrer lebensfrohen Art passten. Wenn sie diese Art förmlicher Kleidung trug, dann immer nur ihrem Freund zuliebe – einem Freiburger Anwalt aus verarmtem Adel, den man stets im grauen Anzug antraf und der seinen ganzen Ehrgeiz daran setzte, zu dem aufzusteigen, was er als die besseren Kreise dieser Stadt bezeichnete.

»Ich möchte, dass du dir das einmal ansiehst«, sagte sie und reichte mir eine gerade angelegte Akte über den Schreibtisch. Das war nicht ungewöhnlich. Margarethe und ich tauschten uns oft aus, wenn uns ein Fall besonders beschäftigte, und da wir es in unserem Beruf nun einmal mit der dunklen Seite des Lebens zu tun hatten, und wir beide noch lange nicht so abgestumpft waren wie einige unserer älteren Kollegen, die sich auch von den Bildern eines misshandelten Kindes nicht ihren Appetit verderben ließen, geschah das an fast jedem zweiten Tag.

Was sie mir reichte, waren die Unterlagen des Alten, und sie sahen genau so aus, wie ich es erwartet hatte: zerfledderte Papiere, mit tausend Farben unterstrichene, immer wieder gelesene Dokumente, abgegriffene Blätter mit zerfaserten Rändern. Natürlich waren auch Kopien von zwei Urteilen dabei, hektografiert, in blauen Buchstaben auf jenem glasglatten beigefarbenen Papier, das ich schon seit meiner Schulzeit nicht mehr gesehen hatte, aber sofort die Erinnerung an jenen intensiven alkoholischen Geruch der Druckfarbe in mir erstehen ließ, der mir jedes Mal in die Nase gestiegen war, wenn unser Lehrer die Blätter ausgeteilt hatte.

Die erste Seite enthielt eine Strafanzeige, aufgegeben beim Polizeiposten Freiburg-Herdern im Jahr 1981 gegen – als ich die Namen las, musste ich unwillkürlich durch die Zähne pfeifen – gegen die Richter am Oberlandesgericht Dr. Joseph-Georg Müller, Thomas Meinrad und Martin von Kempf. Rechtsbeugung warf ihnen der Anzeigenerstatter vor. Was auch sonst?, dachte ich bei mir. Darunter machten es Querulanten selten. Der aufnehmende Beamte hatte sich große Mühe gegeben, den Sachverhalt so neutral zu schildern, wie er nur konnte, wenn auch bei jeder Zeile und bei jedem Wort zu spüren...